16.02.2022
Anja Krieger

Zurück aus der Zukunft

Bis Mitte des Jahrhunderts soll Deutschland klimaneutral sein. Aber wie sähe unser tägliches Leben dann konkret aus? Nadine Mengis hat mit ihrer Kollegin Aram Kalhori und weiteren 35 Forscher:innen der Helmholtz-Klima-Initiative eine ungewöhnliche Reise ins Jahr 2050 gemacht – zu einem fiktiven Deutschland, das die „Netto-Null“ erreicht hat und nicht mehr zum Klimawandel beiträgt. Eine Glaskugel brauchten unsere Wissenschaftler:innen dafür nicht. Sie nutzen den sogenannten „Backcasting“-Ansatz, wie uns Nadine erklärt hat.

Stellen wir uns vor, wir befinden uns im Jahr 2050 und treffen uns hier in Berlin. Wie sieht die Welt um uns herum aus? Was hat sich in unserem Alltag verändert?

Nadine Mengis: Wir leben immer noch so gut wie vor 30 Jahren – aber es ist jetzt viel einfacher für uns, einen klimaneutralen Lebensstil umzusetzen. Unser Strom ist so gut wie CO2-frei, er kommt aus Solarzellen in Fassaden und Dächern, von Windrädern und aus nachhaltiger Biomasse. Fast alle Häuser haben jetzt elektrische Heizungen und sind gut isoliert. Was uns aber 2050 wahrscheinlich am meisten auffällt, ist der veränderte Straßenverkehr. Viele der Elektro-Autos, die noch unterwegs sind, gehören Car-Sharing Firmen, und es fahren mehr Bahnen und Busse. Auch für Fahrradfahrende hat sich viel verändert – es ist viel mehr Platz auf der Straße, weil kaum mehr Parkplätze für PKW benötigt werden.

Wir haben es also wirklich geschafft, überhaupt keine Emissionen mehr in die Atmosphäre zu pusten?

Mengis: Naja, ein wenig CO2 stoßen wir immer noch aus. Wichtig ist aber, dass wir diesen Ausstoß soweit wie möglich reduziert haben. Dafür hat Deutschland in den zurückliegenden drei Jahrzehnten die erneuerbaren Energien ausgebaut wie nie zuvor. 2020 war der Energiesektor noch für über 80 Prozent unserer Emissionen verantwortlich. Das ist im Jahr 2050 nicht mehr so. Durch diese Transformation der Energieversorgung sind die Emissionen in der Industrie, in Haushalten und beim Transport ebenfalls drastisch runtergegangen. Relativ schwierig war es bei der Produktion von Zement und Stahl oder beim Langstrecken- und Schwerlasttransport, von den Emissionen runterzukommen. Durch Wasserstoff und grüne, synthetische Kraftstoffe konnten wir aber einiges an Emissionen einsparen. Auch in der Landwirtschaft wird jetzt viel weniger Dünger eingesetzt und der Boden so bearbeitet, dass mehr Kohlenstoff im Acker erhalten bleibt. Heute sind unsere Emissionen auf weniger als zehn Prozent von denen im Jahr 2020 geschrumpft. Für den Rest unseres „CO2-Abfalls“ übernehmen wir jetzt Verantwortung und entfernen ihn wieder aus der Atmosphäre.

Nadine Mengis
Nadine Mengis
Nadine Mengis
©
GEOMAR
Wissenschaftlerin Aram Kalhori vor einer grünen Moorlandschaft
Wissenschaftlerin Aram Kalhori vor einer grünen Moorlandschaft
Aram Kalhori
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Inge Wiekenkamp / GFZ

Eine Müllentsorgung für CO2 aus der Luft – wie kann man sich das vorstellen?

Mengis: Als allererstes haben wir die natürlich vorkommenden CO2-Senken in Deutschland ausgebaut und dadurch erhöht. Das heißt also die Orte und Ökosysteme, wo Kohlenstoff natürlicherweise gespeichert werden kann – wie der Boden, von dem ich eben erzählt habe. Früher lagen viele Felder brach – das gibt es heute nicht mehr. Stattdessen pflanzen die Landwirt:innen Zwischenfrüchte auf ihren Feldern, die in ihrer Biomasse CO2 speichern. Außerdem wurden landwirtschaftlich genutzte Moore wiedervernässt und können nun nicht nur CO2-Emissionen vermeiden, sondern sogar Kohlenstoff für uns speichern. Was für ein Potenzial darin steckt, hat euch ja kürzlich meine Ko-Autorin Aram im Interview erzählt.

Stimmt, das war spannend. Haben denn alle diese Maßnahmen am Ende gereicht, um Netto-Null zu erreichen – also unterm Strich kein Kohlendioxid mehr in die Luft zu geben?

Mengis: Nein, leider nicht. All diese Bemühungen haben nur etwa ein Viertel unserer verbleibenden Emissionen ausgeglichen. Deswegen haben wir uns mit der geologischen CO2-Speicherung befasst. In unserer Vision haben wir Bioenergie-Anlagen mit CO2-Filtern nachgerüstet und das gesammelte CO2 in den Untergrund der Nordsee gepresst. Außerdem hat im Jahr 2050 jedes größere Bürogebäude eine Anlage, die CO2 direkt aus dem Strom der Heizungs-, Lüftungs- oder Klimaanlage filtert und es über CO2-Sammelstellen in solche Speicher transportiert. Diese Maßnahmen umzusetzen hat uns einiges gekostet – aber das war es wert. Denn den Klimawandel einfach so weiterlaufen zu lassen, würde noch viel teurer.

Lass uns nochmal auf das Jahr 2022 zurückblicken. Was waren eigentlich vor dreißig Jahren die schwierigsten Probleme, die wir lösen mussten?

Mengis: Eines der Probleme war tatsächlich der Platzmangel. Viele Maßnahmen – von erneuerbaren Energien über wiedervernässte Böden bis zur Aufforstung – standen in Konkurrenz zu anderen Aktivitäten, nicht zuletzt auch denen der der Landwirtschaft und damit der Nahrungsmittelproduktion. Deswegen war es so essenziell Landwirt:innen in die Lösung des Problems mit einzubeziehen. Das zweite große Hindernis auf dem Weg zu Netto-Null war die Einführung der technologischen Maßnahmen für die CO2-Entnahme. Da gab es Investitions- und Instandhaltungskosten, finanzielle Kompensationen für die CO2-Entnahme mussten geregelt werden, und es brauchte soziale Akzeptanz. Vieles davon wurde in Deutschland erst erreicht, nachdem andere Länder das vorgemacht hatten.

Jetzt ist das natürlich alles eine fiktive Vision, die ihr gerade veröffentlicht habt. Beamen wir uns mal wieder zurück in die Realität. Woher wollt ihr heute wissen, wie die Zukunft in 28 Jahren aussieht?

Mengis: Das wissen wir natürlich nicht. Aber wenn 37 Expert:innen für Energie und Industrie-Modellierung, Wasserstoff, Energiespeicherung, synthetische Kraftstoffe, Boden und Pflanzenkunde, Moore, Seegraswiesen, Bioenergieanlagen, direkte CO2-Abscheidung aus der Luft, und CO2-Transport und Speicherung, auf Expert:innen für Ökonomie, soziale Akzeptanz und Institutionen treffen, und alle sich – basierend auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand – überlegen, wie Deutschland in rund 30 Jahren aussehen könnte, dann fehlt nur noch eines: Jemand, der das Ganze zusammen bringt und auf Netto-Null bilanziert. Das war in dem Fall ich.

Wenn man so eine Vision entwerfen will, muss man Annahmen darüber machen, was wahrscheinlich passiert und was nicht. Welche habt ihr getroffen?

Mengis: Wie man vielleicht heraushört, fußt unsere Vision stark auf technologischer Innovation. Wir sind davon ausgegangen, dass es keine starken Veränderungen im individuellen Verhalten der Menschen gibt – dass sie den gleichen Wohnraum nutzen, weiter sehr mobil sind und die deutsche Wirtschaftsleistung nicht sinkt. Außerdem wollten wir unsere CO2-Emissionen nur im eigenen Land und nicht über Kompensation irgendwo anders senken und ausgleichen. Das hatte zur Folge, dass wir in unserer Vision nur mit CO2-Entnahme-Maßnahmen und geologischer Speicherung auf Netto-Null kamen. Ob das hier in Deutschland in Zukunft akzeptiert würde, ist die große Frage.

Einiges von dem, was ihr da ausmalt, habt ihr euch sicher vorher schon gedacht. Was hat dich am meisten überrascht?

Mengis: Es gibt zwei Ergebnisse in der Studie, die mir viel Stoff zum Nachdenken geliefert haben. Zum einen stimmt mich die Tatsache nachdenklich, dass selbst die Summe der vielen verschiedenen naturbasierten CO2-Senken, die wir betrachtet haben, nicht ausreicht, um unsere verbleibenden CO2-Emissionen zu kompensieren. Das heißt, wenn wir alles zusammenzählen – die Wiedervernässung von Mooren, Aufforstung auf freiwerdenden Flächen, landwirtschaftliche Methoden für erhöhte CO2-Sequestrierung in den Böden, Wiederherstellung von Seegraswiesen – reicht all das nicht aus, um verbleibende Emissionen in der Größenordnung von 60 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr auszugleichen.

Das zweite ist die Geschwindigkeit, mit der das Energiesystem transformiert werden muss. Wir sind in der Studie zum ersten Mal von einem CO2-Emissionsbudget ausgegangen, mit dem wir im globalen Durchschnitt unter 1,5 Grad Celsius Erderwärmung bleiben könnten. Aus der Gesamtsumme der verbleibenden CO2-Emissionen haben wir errechnet, wie schnell der Ausbau der Erneuerbaren Energien gehen müsste: Wir bräuchten einen Ausbau von 20 Gigawatt pro Jahr. Das überträfe jedes Jahr aufs Neue sämtliche bisherigen Rekorde.

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