Kippelemente im Klimasystem
Je stärker die globale Temperatur steigt, desto höher ist die Gefahr, dass einzelne Elemente des Klimasystems kippen. Wenn diese Kipppunkte überschritten werden, könnten Mechanismen einsetzen, die nicht mehr aufzuhalten sind und weitreichende Auswirkungen auf die Umwelt haben. Auf welche Kipppunkte steuern wir derzeit zu? Was würde das für das Leben auf der Erde bedeuten? Und was können wir dagegen tun?
Schillernde Korallenriffe unter Wasser, riesige Eismassen an den Polen und ein angenehm mildes Klima in Europa: Das ist die Erde, wie wir Menschen sie heute kennen. Dieser Zustand war über Millionen von Jahren alles andere als selbstverständlich. Es gab Zeiten auf unserem Planeten, die – natürlich bedingt – ganz anders aussahen: Mal war es so warm, dass auf Teilen der Antarktis ein Regenwald wuchs, mal könnte der gesamte Erdball eine Schneekugel gewesen sein. Kontinente wanderten, Berge türmten sich auf, die Luft veränderte sich, Meeresspiegel stiegen und fielen, Tier- und Pflanzenarten entstanden und starben wieder aus. Irgendwann gab es dann eine Phase, die stabil genug war, dass sich unsere Gesellschaft entwickeln konnte.
Heute sind wir Menschen die treibende Kraft, die das Erdsystem verändert – zum Beispiel, indem wir fossile Ressourcen nutzen und dadurch die Zusammensetzung der Atmosphäre verändern. „Die Emissionen von Treibhausgasen und die Veränderungen der Landflächen sorgen dafür, dass wir zu deutlich wärmeren Klimazuständen kommen“, sagt Gerrit Lohmann vom Alfred-Wegener-Institut für Polar und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. „Das kann zu unangenehmen Überraschungen führen – der mögliche Verlust des westantarktischen Eisschildes mit mehreren Metern Meeresspiegelanstieg oder die Gefahr durch meteorologische Extreme wie zum Beispiel Trockenheit oder Überschwemmungen“.
Wir nähern uns den Kipppunkten des Planeten, die die Erde von einem Zustand in den anderen bringen – manchmal sprunghaft, manchmal schleichend. Dabei kann es zu Kettenreaktionen kommen: Ähnlich wie Dominosteine, die sich gegenseitig umwerfen, könnte das Überschreiten eines Kipppunkts weitere Elemente des Erdsystems aus dem Lot bringen. Die Folge: Der Klimawandel würde noch schneller und einschneidender verlaufen, und die menschlichen Lebensgrundlagen würden sich massiv verändern – innerhalb von Jahrzehnten und Jahrhunderten statt wie sonst in der Evolutionsgeschichte Jahrmillionen. Wie einschneidend diese Prozesse sind, hängt davon ab, wie gut wir das Klima schützen.
Die Kipppunkte der Erde sind vielfältig: Vom Verschwinden der bunten Korallenriffe über die Eisschmelze in den Polargebieten und die Veränderung der Monsun-Regen bis zu der Veränderung wichtiger Meeresströmungen und Verlust der Wälder in den Tropen und im Norden. Sie sind mit einer weiteren großen Umweltkrise eng verbunden, dem Verlust der Biodiversität. „Letztlich ist auch jede ausgestorbene Spezies eine Art, die einen Kipppunkt überschritten hat und unwiederbringlich verloren ist “, erklärt Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle. Pflanzen, Tiere und andere Lebewesen der Erde halten gemeinsam wichtige globale Kreisläufe aufrecht, die auch die Grundlage für menschliches Leben sind. „Wie viele Arten dürfen aussterben, bis gesamte ökologische Systeme zusammenbrechen?“, fragt Settele. „Das wissen wir nur dann wirklich, wenn es zu spät ist.“
Wie weit in der Zukunft die Gefahren liegen, die durch das Kippen von Elementen im Erdsystem ausgelöst werden, ist schwer vorherzusagen. Viele der zugrundeliegenden Prozesse sind noch nicht ausreichend erforscht. Doch mithilfe von Klimamodellen und der Berechnung möglicher Szenarien können Wissenschaftler*innen mittlerweile die Schwellenwerte und das Verhalten einzelner Kippelemente im Ansatz verstehen. So dürfte beispielsweise ein deutlicher Temperaturanstieg zu einem unkontrollierten Abschmelzen der Kryosphäre – also der Eisvorkommen der Erde – führen, wodurch wiederum der Meeresspiegel massiv ansteigen könnte.
Die Zerstörung von Wäldern wird höchstwahrscheinlich zu ausgeprägten Dürreperioden mit wenigen Niederschlägen führen. „Dürreperioden und Hitzewellen wiederum werden bedingt durch den Klimawandel noch zusätzlich in Frequenz, Dauer und Häufigkeit zunehmen, erklärt Sabine Attinger vom Helmholtz Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Die Folgen wären global spürbar, da nicht nur landwirtschaftliche Erträge ausfielen und die biologische Artenvielfalt leiden würde, sondern die Wälder auch weniger Kohlenstoffdioxid – als atmosphärisches Treibhausgas – aufnehmen könnten. Das strapaziert die Belastbarkeit weiterer Kippelemente. Zum Beispiel könnten dadurch Permafrostböden auftauen oder Strömungen in der Luft und im Ozean gestört werden.
2015 wurde im Pariser Klimaabkommen festgelegt, die Erderwärmung bei 2 Grad Celsius zu stoppen, besser jedoch bereits bei 1,5 Grad. Dann könnte eine unkontrollierbare Erderwärmung noch verhindert werden, Folgen wie Hungersnöte und massive Trinkwasserknappheit würden eingedämmt. Die untere Grenze ist dabei ganz zentral: Denn schon bei einem Anstieg der Temperatur um weniger als 2 Grad Celsius könnten mehrere Kipppunkte erreicht werden. Was passiert, wenn wir die Klimaziele von Paris erreichen? Und was, wenn wir sie verfehlen? Welche der Kipppunkte werden nach heutigem Kenntnisstand wann erreicht? Das erfahren Sie in den Artikeln: