23.06.2022
Kilian Kirchgeßner

„Selbstläufer gibt es in der Klimapolitik nicht“

Ab 2035 wird es in der EU voraussichtlich keine Autos mehr geben, die fossile Kraftstoffe verbrennen. Das soll ein Beitrag dazu sein, den Green Deal im Verkehrsektor in die Tat umzusetzen. Aus Sicht von Wissenschaftler:innen ist das ein wichtiger, aber nur ein erster Schritt, um die Klimaziele zu erreichen.

Text aktualisiert am 29. Juni 2022

Auf den Straßen Europas dürfte sich in den kommenden Jahrzehnten so einiges ändern. Das Europäische Parlament hatte dazu Anfang Juni 2022 einen entscheidenden Anstoß gegeben. Ab 2035 sollten nach seinem Willen unter anderem keine Autos und Transporter mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen werden. Die EU-Umweltminister:innen haben sich dann Ende Juni darauf verständigt, dass in der Europäischen Union ab dem Jahr 2035 nur noch klimaneutrale Neuwagen verkauft werden sollen. Auf Drängen einiger Länder, darunter Deutschland, bleibt damit die Möglichkeit erhalten, dass Neuwagen mit Verbrennungsmotoren, die mit sogenannten E-Fuels betrieben werden, auch nach 2035 zugelassen werden können. Diese synthetischen Kraftstoffe gelten als CO2-neutral. Was auch immer in den nun anstehenden Verhandlungen herauskommt: Es soll ein Beitrag dazu sein, bis zum Jahr 2050 auf Grundlage einer neuen EU-Verordnung 90 Prozent der verkehrsbedingten Treibhausgasemissionen einzusparen und damit die Umsetzung des Green Deal der Europäischen Union voranzutreiben.

Der Klimaforscherin Daniela Jacob ist die Erleichterung darüber anzumerken, dass das Paket überhaupt auf den Weg gebracht wurde: „Man kann es gar nicht hoch genug schätzen“ sagt die Direktorin des Climate Service Center Germany (GERICS) am Helmholtz-Zentrum Hereon, „dass die EU einen Rahmen vorgegeben hat, mit dem sich die Politik in den Mitgliedsländern jetzt auseinandersetzen muss.“

Das Paket gehört zum Programm „Fit for 55“. Die Europäische Kommission will damit sicherstellen, dass der Ausstoß von Treibhausgasen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber dem des Jahres 1990 reduziert wird. Bis zum Jahr 2050 soll Europa dann gänzlich klimaneutral sein. „Bei der aktuellen Abstimmung ging es im Verkehrssektor unter anderem um eine Verschärfung der Flottengrenzwerte“, erklärt Florian Koller vom Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR): „Erstens werden die CO2-Grenzwerte in den Jahren 2025 und 2030 weiter gesenkt, und zweitens kommt es ab dem Jahr 2035 zu einem faktischen Neuzulassungs-Verbot für Fahrzeuge mit Motoren, die fossile Kraftstoffe verbrennen.“

Das sind Szenarien, die Koller und seine Kolleg:innen schon lange kennen und durchgerechnet haben: Er leitet eine Fokusanalyse zur Verkehrswende – und hätte sich bei aller Erleichterung über das neue EU-Paket ambitioniertere Ziele gewünscht. „Das deutsche Klimaschutzgesetz zum Beispiel will die Klimaneutralität schon 2045 erreichen, also ganze fünf Jahre vor der EU.“ Selbst die Autoindustrie sei ambitionierter: „Zumindest wenn man sich die Ankündigungen der Hersteller anschaut, ab wann sie von sich aus auf neue Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren verzichten wollen, dann sieht man da Zielmarken, die deutlich vor dem Jahr 2035 liegen.“

Ein wichtiger Aspekt bei der Energiewende sei die Anstrengungsverteilung, meint Florian Koller, der selbst promovierter Psychologe ist. „Psychologie spielt bei allen politischen Maßnahmen eine Rolle“, sagt er. Über Flottengrenzwerte wird ein Teil der Last auf die Hersteller übertragen, die ein entsprechendes Angebot bereitstellen müssen. Ein anderer Teil liegt bei den Verbrauchern und ihrem Nutzungsverhalten, indem sie etwa weniger fahren oder auf andere Verkehrsmittel umsteigen. „Wie ausgewogen dieser Mechanismus funktioniert, der die Anstrengungen auf verschiedene Akteure verteilt, ist in der öffentlichen Debatte zu wenig präsent.“

Kann es aber gelingen, mit den jetzt beschlossenen Maßnahmen die angepeilte 90-prozentige Reduktion der Treibhausgas-Emissionen im Verkehrssektor bis 2050 zu schaffen? „Bei den kurzfristigeren Zielen ist die durchschnittliche Laufzeit von Autos ein Problem“, sagt Florian Koller: In Deutschland werden Autos durchschnittlich 18 Jahre lang genutzt – das Neuzulassungs-Verbot ab dem Jahr 2035 wirke also nicht sofort, ist aber umso wichtiger, um im Jahr 2050 die Ziele zu erreichen.

Problematisch werden diese langen Auto-Lebenszyklen vor allem für ein Zwischenziel, das deutlich näher liegt: 2030 soll im Transportsektor 48 Prozent weniger CO2 ausgestoßen werden als 1990 – „und um das zu schaffen, brauchen wir das komplette Programm.“ Damit meint Florian Koller die drei Säulen, auf denen das Fit-for-55-Paket ruht: Erstens das Angebot (das über die jetzt beschlossenen Flottengrenzwerte reguliert wird), zweitens das Nutzungsverhalten (zu dessen Regulierung vor allem die CO2-Bepreisung beiträgt) und drittens den Infrastrukturausbau (Ladestationen für Elektroautos beispielsweise, aber vor allem auch eine Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs). Hinzu kommen flankierende Maßnahmen, um den Kraftstoffbedarf, der durch die Elektrifizierung stetig sinkt, durch eine stärkere Beimischung von CO2-neutralen Kraftstoffen zu decken.

Zahlreiche Kommentatoren kritisierten nach der Verabschiedung der neuen EU-Verordnung Anfang Juni zunächst die mangelnde Technologie-Offenheit: Dass Verbrennungsmotoren quasi verboten werden, lasse fast nur Elektroautos als Alternative zu, während andere Technologien wie CO2-neutrale Kraftstoffe von vornherein ausgeschlossen würden. „Ich finde den Beschluss gut, und zwar so, wie er jetzt ist“, sagt hingegen Daniela Jacob, die GERICS-Direktorin. Für sie ist es ein wichtiger Schritt, dass für den Verkehrsbereich jetzt EU-Regeln festgelegt wurden – aber es sei eben auch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu den Zielen des Green Deals. „In den kommenden Monaten und Jahren werden noch sehr viele Diskussionen über die nächsten Maßnahmen auf uns zukommen“, sagt sie.

Ihr Wunsch wäre, dass als nächstes der Land- und Forstwirtschaftsbereich sowie das Ernährungssystem angegangen werden. Weltweit, sagt Klimaforscherin Jacob, stammten rund 30 Prozent der Treibhausgasemissionen aus dem Agrarsektor. „Das umfasst die Land- und Forstwirtschaft ebenso wie die Transporte von Nahrungsmitteln bis hin zu den Kühlketten.“ Durch den Krieg in der Ukraine und dessen Einfluss auf die Lebensmittelversorgung gerieten viele dieser Aspekte besonders in den Blickpunkt: Müssen auch in Europa jetzt Naturschutzgebiete geopfert werden für den Lebensmittelanbau? Brauchen wir gleichzeitig weitere Flächenversiegelungen für neue Industriegebiete? „Das Landmanagement muss zum Thema werden. Genauso wichtig werden landwirtschaftliche Maßnahmen, mit denen sich CO2 im Boden speichern lässt“, sagt Daniela Jacob.

Sie beobachtet, dass Deutschland beim Klimaschutz innerhalb der EU – „entgegen einer verbreiteten Eigenwahrnehmung“ – nicht zu den entscheidungsfreudigsten Ländern zähle. Skandinavien, Frankreich, auch Portugal und Spanien seien zum Beispiel sehr ambitioniert. Andere EU-Länder gehörten eher zu den Bremsern. Die Verhandlungen um die weiteren Beschlüsse, die zum Fit-For-55-Paket gehören, dürften deshalb nicht einfach werden, erwartet Daniela Jacob. Ihre Schlussfolgerung nach vielen Jahren in dem Bereich: „Man muss für jeden Beschluss kämpfen. Selbstläufer gibt es in der Klimapolitik nicht!“

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