Kilian Kirchgeßner

„Man merkt, wie die Forschung richtiggehend ins Fliegen kommt“

Wolfgang Marquardt, der Vorstandsvorsitzende vom Forschungszentrum Jülich, im Interview: Warum die Rolle der Ingenieurwissenschaften für die Bewältigung der Klimakrise unterschätzt wird, wie sich Innovationen fördern lassen – und von welchen Technologien er sich besonders viel verspricht.

Herr Marquardt, wenn es um die Klimakrise geht, kommen in der öffentlichen Debatte meistens Geolog:innen, Klimawissenschaftler:innen und Meteorolog:innen zu Wort und nur selten Ingenieur:innen. Wurmt Sie das?

Es ist nachvollziehbar, dass in erster Linie Forschende für geowissenschaftliche Themen befragt werden. Was aber allgemein unterschätzt wird ist die potenzielle Rolle die Ingenieurwissenschaften in der Klimakrise spielen könnten.

Welche Rolle ist das?

Die eines technischen Problemlösers. Ideale Synergien hebt man, wenn sich Ingenieurwissenschaftler:innen mit Klimawissenschaftlern:innen zusammentun, denn sie bringen jeweils Kompetenzen mit, die sich bestens ergänzen. Ein Beispiel zur Illustration: Die Erdatmosphäre ist im Prinzip ein großer Chemiereaktor, in dem Reaktion und Transport unter komplizierten Randbedingungen abläuft. Ingenieurwissenschaftler haben komplementäre Kompetenzen zur Analyse, dem Entwurf und der Steuerung von Chemiereaktoren und nutzen komplementäre Methoden.

Wann ist Ihnen zum ersten Mal bewusst geworden, dass die Technikforschung eine so tragende Rolle bei der Bewältigung der Klimakrise spielen kann?

Das war schon in meiner Studienzeit. Mein Hintergrund liegt in der Verfahrenstechnik; da geht es immer um Prozesse, in denen Stoffe unter Zuführung von Energie gewandelt werden. Und ich habe schon damals gesehen, dass sich beispielsweise in der chemischen Industrie bei manchen Prozessen der Energiebedarf um die Hälfte senken lässt: Mit numerischer Simulation und Optimierung, die datengetriebene und theoretische mathematische Modelle nutzen, kann man da sehr viel Einsicht gewinnen und damit das Einsparpotential herausarbeiten.

…Moment: Werden Sie gern konkreter, was sind das für Beispiele?

Die Trennung von Flüssigkeitsgemischen in ihre Bestandteile ist eine Aufgabenstellung, die in den meisten Produktionsprozessen in der chemischen Industrie zu lösen ist. Häufig wird dafür die Destillation eingesetzt, welche die Siedepunktsdifferenzen der Reinstoffe im Gemisch ausnutzt. Nur diese eine Technologie macht weltweit rund vierzig Prozent des Energieverbrauchs in der Chemischen Industrie aus. Wenn man diese Verfahren optimiert, zum Beispiel durch Wärmeintegration oder durch die Kombination der Trennung mit der chemischen Synthese in einem Apparat, oder wenn man auf alternative Trenntechniken wie beispielsweise Membranverfahren übergeht, sind erhebliche Energieeinsparungen möglich. Wenn man den Produktionsprozess insgesamt auf den Prüfstand stellt und nach radikal veränderten neuen Prozesswegen sucht, kann der Energiebedarf des Herstellprozesses auf einen Bruchteil reduziert werden.

Ist die Aussicht, an der Bewältigung der Klimakrise mitwirken zu können, für den Nachwuchs in den Ingenieurwissenschaften eigentlich eine Motivation?

Auf jeden Fall! Sie glauben gar nicht, wieviele Studierende im Moment ein Interesse an genau den Methoden haben, die klassischerweise mit der chemischen Industrie verbunden sind, heute aber im Kontext der Transformation des Energiesystems zum Einsatz kommen. Nehmen Sie Carbon Capture als Beispiel – also ein Verfahren, um CO2 aus industriellen Abgasen oder aber direkt aus der Umgebungsluft zu gewinnen, um es dann als Kohlenstoffquelle für chemische Produkte zu nutzen. Das ist nichts anderes als eine Gastrennung, wie sie in der chemischen Industrie häufig zum Einsatz kommen, auch wenn diese in sehr großem Maßstab und unter anderen Randbedingungen zu realisieren sind. Und dieses Wissen in Verfahren einbringen zu können, die zum Klimaschutz beitragen können, das motiviert viele Nachwuchswissenschaftler.

Können die Ingenieurwissenschaften also eine Art Feuerwehr sein?

(lacht) Wenn Sie damit auf das Tempo anspielen, mit dem die Feuerwehr am Einsatzort ankommt, muss ich die Erwartungen bremsen: Schnelle Lösungen lassen sich auch hier nicht in die breite Umsetzung bringen. Selbst wenn die Wissenschaft eine Technologie oder ein Verfahren demonstriert und validiert hat, wenn also seine Funktionsfähigkeit bewiesen ist, dann dauert es noch lange, bis es ausgerollt ist und in der Praxis flächendeckend angewendet werden kann. Bis zum Jahr 2050, in dem ja die EU klimaneutral sein möchte, haben wir noch gut 25 Jahre, und die wird es auch brauchen, um die Defossilisierung des Energiesystems, der industriellen Produktion und der Mobilität zu realisieren. Gleichwohl…

Ja?

Es gibt auch etliche innovative Technologien, die fertig entwickelt in der Schublade liegen, aber bisher nicht oder nur sehr selten zum Einsatz kamen, weil sie sich bei den niedrigen Energiepreisen der Vergangenheit nicht rentiert hatten. Solche Fälle, in denen man bei einer Veränderung der Rahmenbedingungen auf eine alternative Lösung zurückgreifen kann, habe ich in meinem Berufsleben erlebt. Typische Beispiele sind biobasierte Prozesse zur Herstellung von Alkoholen oder organischen Säuren aus nachwachsenden Kohlenstoffquellen, die abhängig von den Rohstoff- und Energiepreisen wirtschaftlich konkurrenzfähig sind oder eben nicht.

Wenn Sie aus Ihrer heutigen Perspektive als Wissenschaftsmanager darauf schauen: Wie können sich Forschungseinrichtungen strategisch so aufstellen, dass sie die Entstehung solcher Innovationen begünstigen?

Alle vielversprechenden Technologien, die sich heute abzeichnen, haben eins gemeinsam: Sie beruhen auf der Kombination der Expertisen aus unterschiedlichsten Disziplinen. Die Aufgabe von Forschungseinrichtungen ist es also, Forschende mit komplementären Kompetenzen vor dem Hintergrund eines konkreten Problems zusammenzubringen. Ein Beispiel von vielen ist die sogenannte Power-to-X-Technologie…

…bei der Stromüberschüsse aus erneuerbaren Energien genutzt werden, indem beispielsweise per Elektrolyse Wasserstoff hergestellt wird.

Ja, Wasserstoff oder auch Synthesegas und Derivate durch Koelektrolyse von CO2 und Wasser. Es wird allerdings noch etwas dauern, bis diese Technik in industriellem Maßstab verfügbar ist, und es wird nur klappen, wenn wir die richtigen Leute zusammenbringen. Dafür braucht es beispielsweise Expertisen in der chemischen Katalyse, in den Materialwissenschaften, in der Fertigungstechnik oder in der Regelungstechnik, um über alle Skalen, von den Elektroden über die Zellen, die Stacks bis zu den Elektrolyseuren die Teilfunktionen so zu gestalten, dass insgesamt hohe Wirkungsgrade und damit niedrige Produktionskosten erzielt werden können. Solche Teams disziplinenübergreifend zusammenzubringen, das ist die Aufgabe der Stunde.

Schauen wir auf das Forschungszentrum Jülich: Welche Weichen haben Sie dort schon konkret gestellt?

Wir haben hervorragend aufgestellte Geowissenschaften, eine ausgezeichnete Atmosphärenforschung, wir sind sehr stark im Bereich der Bodenforschung und natürlich in der Energieforschung. Wir haben also sehr gute Voraussetzungen. Wenn es gelingt, starke, interdisziplinäre Teams zusammenzustellen und förderliche Randbedingungen für Kooperation und Transfer zu schaffen, dann kann die Forschung richtiggehend ins Fliegen kommen. Und natürlich arbeiten wir auch mit anderen Forschungseinrichtungen zusammen. Das breite Knowhow, das innerhalb der Helmholtz-Gemeinschaft verfügbar ist, bietet ein riesiges Potential, das uns allen einen immensen Wettbewerbsvorteil in Aussicht stellt, wenn es uns gelingt, große zentrenübergreifende Teams in einer arbeitsteiligen und interdisziplinären Zusammenarbeit zusammen zu bringen, wie wir es häufig schon erfolgreich praktiziert haben.

Gibt es unter all den vielversprechenden Technologien eine, die Ihnen als besonders großer Hoffnungsträger erscheint?

Ein besonderes disruptives Potenzial sehe ich im Bereich Wasserstoff. In den vergangenen Jahrzehnten ist weltweit eine fossile Wirtschaft entstanden, die es schafft, Kohle, Öl und Gas dort zur Verfügung zu stellen, wo die Energie gebraucht wird. Und schon jetzt zeichnet sich ab: Wir werden in Deutschland aus erneuerbaren Quellen nicht so viel Energie gewinnen können, wie wir benötigen, wenn wir auch weiter ein starker Produktionsstandort bleiben wollen. Wir müssen also auch künftig sehr viel Energie importieren – so, wie wir es bisher mit Öl und Gas machen, nur jetzt eben aus grünen Quellen. An der Stelle kommt der Wasserstoff als grüner Energieträger ins Spiel. Er kann in sonnen- und windreichen Weltregionen sehr günstig erzeugt und weltweit gehandelt werden. Weil die Wasserstofflogistik eine technische Herausforderung darstellt, werden zurzeit chemische Trägerstoffe erforscht, an den sich Wasserstoff leicht binden und am Einsatzort wieder gewinnen lässt. Wenn es so gelingt, die existierende Infrastruktur für Transport und Speicherung zu nutzen und die Umwandlungsverluste klein zu halten, wird diese Technologie zum Game Changer.

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