„Wir sind jetzt in einer Art Notsituation“
Dirk Messner ist Nachhaltigkeitsforscher und seit 2020 Präsident des Umweltbundesamtes (UBA). Im Interview erzählt er, was ihm Sorgen und Hoffnung auf dem Weg in eine nachhaltige und klimagerechte Zukunft bereitet.
Herr Messner, Sie haben sich kürzlich selbst als „Nachhaltigkeitsoptimist im Stresstest“ bezeichnet. Was macht Ihnen Hoffnung und was Kopfzerbrechen, wenn Sie an die Zukunft denken?
Ich bin einerseits optimistisch, weil wir in den vergangenen Jahren einiges erreicht haben. Das, was die Wissenschaft lange forderte, ist endlich in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft angekommen. Mit dem wissenschaftlichen Beirat globale Umweltveränderungen, bei dem ich Co-Vorsitzender war, haben wir 2011 beispielsweise eine Studie für einen neuen Gesellschaftsvertrag für die große Transformation veröffentlicht. Sie zeigte, wie die deutsche, die europäische und die Weltwirtschaft umgebaut werden müssten, damit wir in den Grenzen des Erdsystems bleiben. Unser Bericht hat damals Schockwellen ausgelöst. Unternehmen haben uns kritisiert, weil sie meinten, wir würden mit unseren Vorschlägen die Grundlagen unserer Wirtschaft zerstören. Mittlerweile ist das, was wir damals entwickelt haben, weitgehend Konsens und findet sich in den Zielsetzungen des European Green Deal, des Pariser Klimaabkommens, im Koalitionsvertrag der Bundesregierung und der Strategie des Bundesverbands der deutschen Industrie zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045 an vielen Stellen wieder.
Aber es gibt auch Entwicklungen, die mich nervös machen. Dazu gehören globale Trends und ihre starke Eigendynamik, die mit unseren 1,5 bis 2-Grad-Klimazielen nur mit enormen Anstrengungen zusammengeführt werden können. Einer davon ist die globale Urbanisierung, die Verstädterung. Von heute bis 2050 wird sich die Anzahl der Menschen, die in Städten lebt, voraussichtlich verdoppeln, von heute 3,7 Milliarden auf etwa bis zu 7,5 Milliarden Menschen. Das könnte enorme Konsequenzen für das Klima haben, denn 40 Prozent der globalen Emissionen stammen von Gebäuden – und 60 bis 70 Prozent sind mit dem Stadtsystem verbunden. Wir werden die urbanen Infrastrukturen weltweit in kurzer Zeit verdoppeln. Das heißt, wir müssen sofort anfangen, die neu entstehenden Städte grundsätzlich auf Kreislaufwirtschaft und Klimaneutralität auszurichten, sonst schießen wir weit über unsere Klima-, aber auch die Biodiversitätsziele hinaus.
Welche Megatrends sehen Sie noch, die den Klimazielen im Weg stehen?
Bis 2050 müssen wir die globalen Emissionen alle zehn Jahre halbieren, um noch unter 2 Grad zu bleiben. Da bereiten mir die Pläne von China und Indien Sorgen. Die beiden Länder wollen klimaneutral werden, was gut ist. Aber sie planen das erst für 2060 oder 2070, was zu spät ist. Im Jahr 2030 würde China dann immer noch 13 bis 14 und Indien sechs bis sieben Gigatonnen Treibhausgase ausstoßen. Zusammen wäre das die Hälfte der heutigen Emissionen – und insgesamt etwa so viel, wie wir bis 2030 weltweit noch zur Verfügung haben, um unsere Klimaziele einigermaßen sicher zu halten. Das Problem ist nicht, dass wir keine Lösungen haben, sondern der enge Zeitrahmen, der uns noch bleibt, um von jetzt an alles richtig zu machen. Wir sollten uns auch nicht in Sicherheit wiegen, dass das alles schon irgendwie klappt. Wir müssen noch viel ambitionierter werden.
Sie erwähnten gerade die Bedrohung von Biodiversität und Arten. Und es gibt noch viele weitere planetare Grenzen, die wir schon durchbrochen haben. Beim Klima bleibt nur wenig Zeit, das Ruder rumzureißen, bevor gefährliche Kipppunkte im Erdsystem erreicht sind. Wie können wir mit so vielen Herausforderungen gleichzeitig überhaupt umgehen – in der Geschwindigkeit, die nötig ist?
Das Allerwichtigste ist, die Dringlichkeit zu verstehen und zu vermitteln. Wir sind wirklich in einer Art Notsituation. Wir haben viele Bedingungen für die Transformation zur Nachhaltigkeit geschaffen, wir sehen aber auch, dass diese Megatrends uns vor Herausforderungen stellen, die nicht einfach zu beantworten sind.
Robert Habeck hat das vermittelt, als er für die erneuerbaren Energien gesagt hat, dass wir in Deutschland überall den Faktor 3 brauchen – dreimal so viel und dreimal so schnell wie vorher. Das ist möglich, aber eine große Herausforderung. So muss man argumentieren, denn aus der Klima- und Erdsystemforschung kriegen wir ja leider mitgeteilt, dass die Situation sich noch dramatischer darstellt, als wir das noch vor wenigen Jahren dachten. Vor ein paar Jahren war die Botschaft aus der Erdsystemforschung ja noch, dass die großen Kipppunkte im Erdsystem – das Abschmelzen des Grönlandeises, der Zusammenbruch des asiatischen Monsuns, das Austrocknen des Amazonas-Regenwalds – erst bei 3 bis 3,5 Grad Celsius Temperaturerhöhung erreicht würden. Dieses gefährliche Terrain zu vermeiden war auch die Begründung dafür, für 2 Grad und darunter zu kämpfen. Die Leitplanke sollte einen Puffer bilden zu den Risikioszenarien, die wir verhindern wollten. Aber dieser Sicherheitspuffer ist jetzt weg, weil die neuen Studien zeigen, schon um die 2 Grad, möglicherweise schon ab 1,5 Grad, kommen wir in einen Bereich, wo einige Kipppunkte unwiederbringlich überschritten werden könnten – und zwar mit einer hohen Wahrscheinlichkeit.
Wir haben also einerseits diese gesellschaftlichen Megatrends, die in eine Richtung fahren, und die Dynamik des Erdsystems, die ihnen in Gegenrichtung entgegenfährt – und wir müssen den Crash aufhalten.
Ja, und dabei müssen wir nutzen, was wir schon haben: Die Technologien, mit denen es im Prinzip möglich ist, unsere Ziele zu erreichen. Den Konsens in unserer Gesellschaft, der uns dabei unterstützen kann, dieses Vorhaben gesellschaftlich tragfähig und unter demokratischen Bedingungen zu ermöglichen. Die Geschäftsmodelle in unseren Unternehmen, die uns erlauben, in diese Richtung zu gehen. Unser Wissen, um die klima-, wirtschafts- und innovationspolitischen Instrumente, um die Transformation zur Klimaneutralität zu unterstützen. Wir müssen jetzt die Potenziale, die entwickelt worden sind, mobilisieren und umsetzen. Dabei dürfen wir uns von den Schocks, die durch die aktuelle Krise von Krieg, Energie, Inflation und vielleicht auch Rezession ausgelöst werden, nicht abhalten lassen. Wir dürfen die entscheidende Dekade der Zwanziger nicht verpassen. Das ist das Zeitfenster, das uns noch bleibt, um unsere Klima- und Erdsystemstabilitätsziele noch erreichen zu können. Jenseits dieser Ziele werden wir uns verstärkt um zusätzliche Fragen kümmern müssen: um Loss and Damage zum Beispiel – das Ahrtal war eine Frühwarnung.
Das Umweltbundesamt ist die zentrale deutsche Umweltbehörde, die zugleich eine Ressortforschungseinrichtung ist. Sie forscht ja zu Umweltfragen und informiert die Öffentlichkeit, berät die Bundesregierung und arbeitet international mit Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation zusammen. Hier in Deutschland tragen Sie zur Gesetzgebung bei. Wo sehen Sie im Moment die fruchtbarsten Ansatzpunkte für eine klimagerechte Politik?
In den vergangenen Wochen hat mich folgende Beobachtung besonders berührt: Wenn unsere Gesellschaften wirklich mit einer Krise konfrontiert sind, dann sind wir zu massiven und tiefgreifenden Maßnahmen in der Lage. Wir können in sehr kurzer Zeit handeln. In der Pandemie war das atemberaubend, wir haben wissentlich eine Rezession eingeleitet, Produktionsprozesse in großem Stil lahmgelegt, Leute nach Hause geschickt, das ist doch unglaublich, oder? Jetzt der Russland-Krieg: Zeitenwende, 100 Milliarden für die Bundeswehr, hunderte Milliarden zur Abfederung ökonomischer und sozialer Kosten – alles in Tagen.
Aber wir sind nicht in der Lage, so etwas auch in der mittelfristigen Perspektive zu tun. Es geht ja beim Klimaschutz nicht um einen Schlachtplan bis ins übernächste Jahrhundert, sondern um die Gestaltung des Wandels bis 2050. Wir wissen, was wir bis dahin erreichen sollten und was uns droht, wenn wir scheitern. Wir wissen, welche Meilensteine wir jetzt in den Zwanziger Jahren erreichen müssen. Wenn wir die nicht hinkriegen, dann können wir unser 2-Grad-Ziel vergessen, uns mit Klimaanpassung und den Auswirkungen der Kipp-Punkte für das internationale System beschäftigen. Wir hatten gehofft, wir könnten durch unser Wissen verhindern, erst tätig zu werden, wenn uns die Klimakrise hart erwischt – vielleicht war das zu optimistisch. Anders als südlich der Sahara erscheint uns in Europa die Klimakrise noch nicht als existenzielle Bedrohung, die wir erleben – sondern nur eine, von der wir wissen. Dieses Wissen hilft uns leider bisher nicht, angemessen zu handeln. Würde wir auf das Wissen um die zukünftigen Klimakrisen so angemessen und robust reagieren, wie auf Pandemie und Russlandkrieg, könnten wir die Transformation zu Klimaneutralität gut schaffen.
Klimawandel und Klimakrise sind aber doch auch in Deutschland nicht mehr reine Theorie – etwa, wenn man an den letzten Sommer denkt, die mehrjährige Dürre, in der wir jetzt stecken, oder die vielen Hitzetage. Das ist ja alles schon sehr spürbar, oder?
Ja, aber es ist offensichtlich noch nicht existentiell bedrohlich für unsere Gesellschaft. Wenn ich mit Menschen aus oder in Afrika oder Indien spreche, da hat sich die Diskussion ganz stark verändert. Vor zehn Jahren hieß es dort noch: Das ist eure Krise, die habt ihr verursacht, ihr müsst die lösen – seht mal zu, das ist ja nicht unser Problem. Dann haben sich dort die Wirkungen des Klimawandels aber massiv verstärkt, und das hat die Sichtweisen fundamental verändert. Dort werden jetzt große Anstrengung zur Klimaanpassung und Senkung der Emissionen unternommen, weil der Druck viel existenzieller geworden ist als bei uns.
Wie hat sich dort die Wahrnehmung des Problems konkret verändert?
In Indien zum Beispiel habe ich vor zehn Jahren noch viel Widerspruch gegen Klimaschutz gehört. Ich höre jetzt sehr viel Zuspruch, dass auch Indien seinen Beitrag leisten muss – obwohl die Emissionen pro Person immer noch viel kleiner sind als bei uns. Es bleibt aber der Vorwurf an den Westen, dass wir trotz der Erkenntnisse unserer Wissenschaft nicht schneller und entschlossener gehandelt haben. Da werden uns viele Vorwürfe gemacht, es gibt Misstrauen – das kommt bei uns, glaube ich, noch nicht richtig an. Wir reden ja seit 15 Jahren über einen Anpassungsfonds für die Entwicklungsländer, der sollte 100 Milliarden Euro betragen. Wir haben es immer noch nicht geschafft. Und die Grundstimmung in den betroffenen Ländern lautet: Ihr lasst uns alleine, ihr liefert uns nicht, was ihr zugesagt habt und ihr reduziert eure eigenen Emissionen viel zu langsam.
Eine ganz konkrete Sache, die mir in dieser internationalen Dimension noch am Herzen liegt: Wir haben beachtliche Kritik in Europa zum European Green Deal erhalten – aus Afrika. Denn kurzfristig fordert er die Grundlagen der afrikanischen Ökonomien heraus: Export von Ressourcen und fossilen Energieträgern. Das haben wir nicht angemessen berücksichtigt. Wir haben einen wunderbaren Plan entwickelt, mit Auswirkungen auf unseren Nachbarkontinent – und vergessen, die Implikationen mit dem Nachbarkontinent gemeinsam zu besprechen. Was ich mir deswegen wünschte, wäre, dass wir aus dem European Green Deal einen African-European Green Deal machen, weil wir die Probleme ohne die Kooperation mit unserem Nachbarn nicht lösen können. Das hat mit Frieden und Sicherheit zu tun, aber auch mit Klima, Ressourcen und Urbanisierung. Wenn in Afrika diese Prozesse nicht mit vollzogen werden und wir da keine Allianzen bilden, wird das scheitern.
Es steht extrem viel auf dem Spiel, es gibt die berechtigte Sorge, dass wir auf diese Krise nicht schnell und entschieden genug reagieren. Wie kann die Wissenschaft hier helfen?
Wir können dazu beitragen, dass über diese Herausforderungen so gut informiert wie möglich gesprochen wird. Wenn man keine gesellschaftlichen Debatten hat, kann man auch nicht erwarten, dass sich etwas verändert. Da bin ich ganz bei Immanuel Kant, der sagte, die Essenz der Aufklärung war die Veränderung der Denkensart der Menschen. Was wir hier besprechen, Klimaneutralität, Zirkularität, Wohlstand in Grenzen des Planeten, Erdsystem-Verantwortung – das sind ja alles Begrifflichkeiten, die noch vor 30 Jahren absurd schienen. Also: Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können dazu beitragen, diese Denkensart der Menschen mit zu befördern: Aus guten Gründen zu handeln. Das ist für mich der Auftrag der Wissenschaft.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Messner.
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