26.01.2022
Reimund Schwarze

Im Wettlauf nach unten

Mit ihren Plänen, Atomkraft und Erdgas als klimafreundliche Technologien einzustufen, wird die EU-Kommission Ökostandards verwässern. Ein falscher Schritt in der internationalen Taxonomie.

Ein Kommentar von Reimund Schwarze

Dass die Atomkraft hierzulande noch einmal eine solche Aufmerksamkeit erfährt, haben wohl die wenigsten vermutet. Aber mit ihrer neuen Taxonomie hat die EU-Kommission eine Debatte angestoßen, die die Gemüter erhitzt. Die EU-Taxonomie soll einheitliche Standards für ökologisches Wirtschaften festlegen. Das soll private Investitionen in grüne Technologien stärken und ein „Greenwashing“ durch Unternehmen verhindern. Viele Investoren sind davon überzeugt, dass nur eine einheitliche, weltweite und ambitionierte Taxonomie die benötigten Investitionen mobilisieren kann, die für die Erreichung der Ziele des Pariser Klimaabkommens nötig sind. Indem die EU-Taxonomie Kernkraft und Erdgas nun als grün einstuft, bleibt sie jedoch hinter anderen Standards zurück. Sie dient nicht nur nicht als Blaupause für einen hohen internationalen Standard, sondern führt im schlimmsten Fall dazu, dass auch andere Taxonomien Atomenergie und Erdgas als grün einstufen. Dies würde einen „Wettlauf nach unten“ zwischen verschiedenen Standards einläuten.

Portrait Reimund Schwarze
Portrait Reimund Schwarze
Reimund Schwarze
©
Sebastian Wieding / UFZ

Jahrelang haben die Mitgliedstaaten über die Frage gestritten, welche Geldanlagen nachhaltig umweltverträglich sind. Zum Jahresauftakt hat die Europäische Kommission nun Pläne vorgelegt, die Kernenergie- und Erdgasprojekte unter bestimmten Umständen als "grüne" Investitionen ausweisen. Dieses "Ökosiegel“ soll Investitionen aus privatem Kapital attraktiver machen und ein "Greenwashing", bei dem Unternehmen ihre Umweltfreundlichkeit übertreiben, verhindern. Bei der sogenannten „Taxonomie für nachhaltige Finanzen“ handelt es sich um eine Liste von Wirtschaftstätigkeiten und zugeordneten Umweltkriterien, die sie erfüllen müssen, um als grüne Investitionen eingestuft zu werden. Die Kommission hat darüber hinaus angekündigt, die Taxonomie auf die EU-Finanzierung für die Konjunkturankurbelung nach der Pandemie anzuwenden. Die Regeln werden damit auch darüber entscheiden, welche Projekte für öffentliche Finanzierungen der EU in Frage kommen. Das weckt Begehrlichkeiten auf allen Seiten. 

In seiner aktuellen Fassung sieht der Entwurf der Kommission vor, auch Investitionen in Kernkraft- und Erdgaskraftwerke als klimafreundlich einzustufen: Bei Kernkraftwerken, wenn sie über einen Plan, Finanzmittel und einen Standort für die sichere Entsorgung radioaktiver Abfälle verfügen; bei Erdgaskraftwerken, wenn sie einen sehr niedrigen Grenzwert einhalten (der tiefgreifende Emissionssenkungen verlangt und teuer wäre) oder wenn sie bei einem höheren Ausstoß den Nachweis erbringen, dass ein umweltschädlicheres Kraftwerk für fossile Brennstoffe dadurch ersetzt wird und das Kraftwerk spätestens bis Ende 2035 auf kohlenstoffarme Gase umgestellt wird. Das gibt den Betreibern von Gaskraftwerken mehr Zeit und Gestaltungsspielraum. Gas- und Kernkraftwerke werden als "grün" eingestuft, da es sich um "Übergangstechnologien" handelt. Die Kommission stützt sich dabei auf eigens eingeholte wissenschaftliche Gutachten, die sich aber ebenso wenig einig sind wie die EU-Länder darüber, was in Zukunft möglich und was im Übergang nötig ist. Die Tschechische Republik, Finnland und Frankreich, das rund 70 Prozent seines Stroms aus diesen Kernbrennstoffen bezieht, betrachten die Kernenergie als entscheidend für den Ausstieg aus der CO2-emittierenden Kohleverstromung. Die EU-Länder Dänemark, Deutschland, Spanien, Luxemburg und Österreich lehnen die Kernenergie dagegen ab. Rund ums Erdgas sammelt sich eine Allianz von zehn vormals besonders kohlelastigen osteuropäischen Staaten zusammen mit Deutschland. Frankreich unterstützt diese Gruppe, um die nationale Kernenergiestrategie nicht durch strenge grüne Regeln zu gefährden. Nur eine unrealistische Mehrheit von über 72 Prozent der Mitgliedsstaaten (mindestens 20 Mitgliedsstaaten), die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der EU vertreten, könnte den Kommissionsvorschlag im Gesetzgebungsprozess jetzt noch ändern oder stoppen.

Für die EU ist dies ein Armutszeugnis der Unabgestimmtheit in der gemeinsamen Energiepolitik. Der eigentliche Schaden entsteht aber an anderer Stelle. Denn viele Investoren, etwa die Net Zero Banking Alliance Germany, ein Zusammenschluss von acht deutschen Banken, befürchten, dass die Auflistung von Kernkraft und Erdgas die EU-Taxonomie insgesamt als Fixpunkt für andere Taxonomien aus dem Rennen wirft. Das Ziel, Greenwashing zu bekämpfen, könnte damit gefährdet werden. Denn mit diesem Schritt fallen im weltweiten Wettbewerb der Taxonomien auch ambitionierte Regeln.

Am Ende entscheiden die Marktbeteiligten, also die Investoren, welche Taxonomie zur Anwendung kommt. Die Internationale Kapitalmarkt-Allianz, ein Bund von über 600 europäischen Banken und Finanzdienstleistern, empfiehlt den Mitgliedern die Annahme einer 'EU-China common ground taxonomy'. Die geht nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners vor. Da China und Russland die ungebremste Stromerzeugung aus Gas aus ihren grünen Taxonomien ausgeschlossen haben, werden diese Regeln der EU-Taxonomie ohnehin im Wettbewerb der Ökosiegel ausscheiden.  Schlimmer aber, es könnte geschehen, was jetzt in Südkorea zu beobachten war. Dort wurde Erdgas in der nationalen grünen Taxonomie ergänzt als sich andeutete, dass die EU dies erwägt. Das wäre ein „Race to the bottom“ – ein Wettlauf nach unten.

Wir wissen aus der rechtsökonomischen Theorie des Standards-Wettbewerbs, dass ein solcher „Wettlauf nach unten“ umso wahrscheinlicher ist, je mehr nationale Standards konkurrieren und je niedriger die Standards sind. Die jetzige Verwässerung der 27-Länder-Taxonomie der EU ist insofern der falsche Schritt, um international einen hohen Standard zu sichern. Die Internationale Standard Organisation (ISO) hat bereits im Dezember die Atomenergie und das Erdgas aus der Liste nachhaltiger Anlagen ausgeschlossen. In der jetzigen Fassung würde die geplante Allianz von ISO und EU-Taxonomie unmöglich werden. Aber nur eine einheitliche, weltweite und ambitionierte Taxonomie, so die Überzeugung vieler grüner Impact-Investoren, kann die weltweit benötigten privaten Investitionen in Höhe von 100 bis 150 Billionen US-Dollar mobilisieren, die für die Erreichung der Ziele des Pariser Übereinkommens in den nächsten drei Jahrzehnten erforderlich sind.

Der Neujahrsentwurf der Kommission missachtet nicht nur vier Jahre wissenschaftlicher und finanzwirtschaftlicher Analysen. Er befördert wohl möglich auch eine unheilvolle Abwärtsspirale im internationalen Wettbewerb der Taxonomien für nachhaltige Finanzen. „Wir haben die Debatten über nachhaltige Finanzen und europäische Energieszenarien fälschlich miteinander verknüpft. Erdgas und Kernenergie werden beim Umstieg auf erneuerbare Energien zwar eine Rolle spielen, aber sie sind nicht grün - und können auf jeden Fall auch ohne das grüne Siegel der EU finanziert werden. Indem wir sie einbeziehen, wird die Systematik nun kein Goldstandard mehr sein“, schreibt Simone Tagliapietra, einer der Mitbegründer der EU-Taxonomie, auf Twitter. Dem ist nur zuzustimmen.

Einen weiteren Kommentar zur Rolle von Atom- und Gaskraft in der Taxonomie der EU von Erik Gawel, Leiter des Departments Ökonomie des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ), finden Sie hier.

Artikel teilen