17.08.2022
Anja Krieger

Wenn die Erde plötzlich wegrutscht

Erdrutsche können verheerende Folgen haben. Sie verschlucken Häuser und Straßen, tragen große Mengen Geröll ins Tal und schädigen Menschen, Ökosysteme und Infrastruktur. Zu solchen Unglücken könnte es in Zukunft öfter kommen, sagt Wissenschaftler Ugur Öztürk. Im Fachblatt Nature präsentiert er mit einer Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen die Ergebnisse von Modellrechnungen und fordert mehr Forschung, um die Risiken von Erdrutschen besser zu verstehen und Schäden zu verhindern.

In Südamerika, Afrika und Asien kam es dieses Jahr zu einer Reihe verheerender Erdrutsche, bei denen Hunderte von Menschen ums Leben kamen. Die erste Jahreshälfte 2022 gehört damit zu den tödlichsten Zeiträumen überhaupt. Jedes Jahr sterben mehrere tausend Menschen, wenn plötzlich die Erde absackt – eine noch größere Anzahl wird verletzt und verliert ihr Zuhause. Ugur Öztürk vom Institut für Umweltwissenschaften und Geographie an der Universität Potsdam und dem Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ sagt, dass das Risiko von Erdrutschen in Zukunft noch steigen dürfte. In unserem Interview erklärt er, warum.

Die meisten von uns denken bei einem Erdrutsch an eine Naturkatastrophe. Wie kommt es zu solch einem zerstörerischen Ereignis?

Ugur Öztürk: Erdrutsche sind definiert als die Bewegung von Erdmassen durch die Schwerkraft. Im Grunde genommen wird der Boden – Erde, Schlamm, Felsen und alles, was sich darauf befindet – instabil und rutscht einen Hang hinunter. Das kann ein Berg oder die Rinne eines Flusses sein. Erdmasse kann sich sehr schnell bewegen, so dass den Menschen, die sich im Weg befinden, oft nur wenig Zeit zum Reagieren bleibt. Das macht solche Unglücke so beängstigend, tödlich und zerstörerisch.

Erdrutsche sind das häufigste geologische Ereignis auf der Erde, sie treten schon immer natürlich auf. Doch mit dem Wachsen von Städten und dem Klimawandel steigt die Gefahr von Erdrutschen stark. Viele dieser Katastrophen sind nicht mehr ganz natürlich, weil wir als Menschen Einfluss üben. Leider sind es die Gemeinden im globalen Süden mit ihren geringen wirtschaftlichen Ressourcen, die davon am stärksten betroffen sind. Sie sind am meisten gefährdet und am wenigsten widerstandsfähig.

Ugur Öztürk im Schatten von Bäumen mit ernstem Blick.
Ugur Öztürk im Schatten von Bäumen mit ernstem Blick.
Ugur Öztürk (GFZ)
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privat

Was genau löst denn einen plötzlichen Erdrutsch aus?

Es gibt mehrere natürliche Auslöser. Manchmal sind es starke Regenfälle, die einen Erdrutsch auslösen, manchmal ein Vulkan, ein Erdbeben oder eine Dürre. Besonders gefährlich wird es, wenn der Boden geschädigt ist oder keine Vegetation ihn bedeckt. Gesunde Böden, Wurzeln, Pflanzen und Bäume sind ein natürlicher Schutz vor Erdrutschen – vor allem bei denen, wo die sich bewegende Masse dünner als 10 Meter ist. Pflanzenwurzeln halten den Boden zusammen, saugen Wasser auf, und Bäume oder Büsche können herabfallende Gegenstände abfangen. Wenn das nicht mehr der Fall ist, zum Beispiel nach einem Waldbrand oder weil wir Land für das Anlegen von Feldern oder den Bau von Häusern gerodet haben, wird dieser natürliche Schutz geschwächt. Hinzu kommt, dass natürliche Hänge stabiler sind, als wenn der Hang verändert wird, um Platz für Infrastruktur und Gebäude zu schaffen. Diese "künstlichen Hänge" sind sozusagen anfälliger für Erdrutsche und Schäden.

Wir schaffen also Land, das leichter absacken kann?

Ganz genau. Das hat mit dem Anwachsen der Städte in einer Zeit zu tun, in der der Platz knapper wird. Wenn sich Städte ausdehnen, dann passiert das oft auf unsicheren Gebieten. Häuser und Straßen werden zum Beispiel an oder in der Nähe von steilen Hängen gebaut, die vorher unbewohnt waren. Wenn sie nicht sicher gebaut sind, steigt die Gefahr, dass ein Erdrutsch Menschen verletzt.

Je stärker geneigt ein Hang ist, desto instabiler ist er auch. Um Platz für Straßen oder neue Häuser zu schaffen, werden die Hügel manchmal noch steiler gemacht, was den natürlichen Hang destabilisiert und zum Einsturz führen kann. Die Stabilität wird auch durch den Wassergehalt im Boden und die Befestigung durch Pflanzenwurzeln beeinflusst. Wenn die Pflanzen entfernt werden, der Hang nicht ausreichend entwässert wird oder Wasser zum Beispiel durch undichte Rohre eindringt, beeinträchtigt das ebenfalls die Stabilität des Hangs.

Wir müssen also die menschliche Beteiligung an diesen Katastrophen berücksichtigen und untersuchen. Wir sind nicht nur passive Opfer, sondern gestalten auch aktiv das Umfeld, in dem sich solche Katastrophen ereignen können.

Könnte der Klimawandel die Situation weiter verschlimmern?

Ja. Es wird erwartet, dass sich der Klimawandel stark auf die Niederschlagsmuster auswirken wird, insbesondere in feuchten Regionen wie den Tropen oder Küstengebieten. So könnte es beispielsweise häufiger zu kurzen, aber heftigen Regenfällen kommen, statt wie bisher leichterer Regen über mehrere Tage hinweg. Solche konzentrierten Regengüsse können flache Erdrutsche und Murenabgänge auslösen. Obwohl das Gebiet, in dem solche Erdrutsche beginnen, in der Regel klein ist, kann sich die Erdmasse aufgrund der hohen Wassermenge kilometerweit ins Tal bewegen und ein großes Gebiet betreffen.

Ein Beispiel: In Freetown, Sierra Leone, bewegte sich die Erde etwa sechs Kilometer entlang eines Baches und begrub 2017 Hunderte von Menschen unter sich. Unser Modell zeigt, dass eine Kombination aus ungeplanter Stadterweiterung und häufigeren Regenfällen die Zahl der Erdrutsche – vor allem der kleineren und flacheren – erhöhen wird. Der Klimawandel ist also definitiv ein Faktor, und je besser wir das Klima schützen, desto weniger Schäden können wir erwarten.

Die meisten Erdrutsche ereignen sich im globalen Süden, der die größten klimabedingten Risiken zu tragen hat. Sind wir hier in Deutschland vor einer möglichen Zunahme von Erdrutschen sicher?

Nein, wir sind nicht ganz sicher. Wir haben auch hier tödliche Erdrutsche. Ein dramatisches Beispiel war der Felssturz in Stein an der Traun in Bayern, bei dem vier Menschen ums Leben kamen, oder der Erdrutsch, der zwei Häuser und drei Menschen in den Concordiasee in Sachsen-Anhalt riss.

In Deutschland treten Erdrutsche häufig zusammen mit Überschwemmungen auf. So haben Erdrutsche beispielsweise die Schäden des Hochwassers 2016 in Braunsbach erheblich vergrößert und spielten auch beim Eifel-Hochwasser im Sommer 2021 eine große Rolle. Durch Erdrutsche werden große Mengen an Sedimenten und manchmal sogar große Felsbrocken freigesetzt, die dann in das Hochwasser stürzen und es noch gefährlicher machen, indem sie alles auf ihrem Weg zerquetschen und begraben. Mit dem Klimawandel werden wir sicherlich auch in Mitteleuropa mehr Erdrutsche und damit verbundene Schäden erleben.

Häuser an einem Hang ohne Vegetation, der zu einem kleinen See herunterführt.
Häuser an einem Hang ohne Vegetation, der zu einem kleinen See herunterführt.
Blick auf die Unglückstelle der eingebrochenen Tagebausee-Uferstelle am Concordiasee 2010 in Sachsen-Anhalt.
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picture-alliance / ZB/euroluftbild.de | euroluftbild.de

Können wir etwas tun, um uns und andere vor diesen Risiken zu schützen?

Unser Artikel in Nature konzentriert sich auf informelle Siedlungen im globalen Süden, das heißt provisorische Unterkünfte. Dort muss viel getan werden, um wachsenden Schaden zu vermeiden. Das sind Maßnahmen, die wir aus dem Ausland unterstützen können, durch Forschung, Expertise und internationale Politik.

Aber einige Vorschläge gelten auch für uns in Deutschland. Zum Beispiel müssen wir mit allem Nachdruck dafür eintreten, die Naturlandschaften Europas zu schützen, um die Auswirkungen des Menschen auf die natürliche Umwelt zu verringern. Auf individueller Ebene kann es helfen, Regen von den Dächern zu sammeln, denn das verringert die Wahrscheinlichkeit von Erdrutschen durch Regenfälle und auch das Risiko von Sturzfluten und Erosion. Außerdem würden die Haushalte mit neuen Wasservorräten versorgt.

Am wichtigsten ist jedoch, dass alle Beteiligten, also etwa die Fachleute für Katastrophenrisiko, politische Entscheidungsträger:innen, Forschende und Bewohner:innen der gefährdeten Gemeinden in multidisziplinären Teams und Netzwerken zusammenarbeiten, um die sozialen, physischen, politischen und wirtschaftlichen Triebkräfte des Erdrutschrisikos besser zu verstehen und anzugehen.

Vielen Dank für diesen Hintergrund, Herr Öztürk.­­­­

Bild oben: Nach einem Erdrutsch im Petropolis im Staat Rio de Janeiro, Brasilien (Februar 2022).

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