Können wir den Sack „Artikel 6“ in Glasgow endlich zumachen?
Ein zentraler Verhandlungsgegenstand auf den Klimakonferenzen ist seit Langem der Emissionsrechtehandel. Hier müssen viele Interessen unter einen Hut gebracht werden. Das könnte diesmal gelingen.
Ein Kommentar von Reimund Schwarze
Die eigentliche Hausaufgabe der internationalen Klimaverhandlungen im schottischen Glasgow besteht darin, eine Lösung für das seit vier Jahren verschleppte Problem des internationalen Emissionsrechtehandels zu finden. Denn daran hängt in vielfältiger Weise der Abschluss des gesamten Regelwerks zur Umsetzung des Übereinkommens von Paris. Von einem entscheidungsreifen Dokument sind die Verhandlungsparteien noch weit entfernt. Trotzdem habe ich die Hoffnung, dass in Glasgow eine Lösung gelingt.
Zunächst zum Stand am Beginn der zweiten Woche der COP26. Die Unterhändler*innen haben in der ersten Woche in langen Nächten und vielen informellen Treffen zwei Versionen von Dokumenten aus- und überarbeitet. Hier gab es ein Hin und Her, sodass sich die Zahl der Klammern kaum nach unten bewegt hat, sprich: Die Zahl der umstrittenen Textelemente sowie der Entscheidungsoptionen für das High-Level-Segment der Ministerinnen und Minister. Der Kollege Simon Evans, bekannt für seine „Klammern-Statistik“, zählt einen Rückgang der Klammern in den Artikel-6-Texten von 378 auf gerade einmal 296 bis zum Ende der ersten Woche. Die letztmaligen Verhandlungen in Madrid (COP25) sind an weniger als 20 Klammern gescheitert, die meisten davon haben Artikel 6.4. betroffen.
Knackpunkt Nachhaltigkeit
Artikel 6.4. regelt den sogenannten Nachhaltigkeitsmechanismus (kurz: SDM, Sustainable Development Mechanism). Der SDM ist gewissermaßen der Nachfolger des CDM (Clean Development Mechanism) des Kyoto-Protokolls. Die meisten Streitpunkte des Scheiterns in Madrid betrafen exakt den Übergang vom CDM zum SDM des Pariser Übereinkommens. Da es sich hier um etablierte Märkte und Verfahren handelt, sind davon wirtschaftliche und politische Interessen betroffen, die selbstverständlich (verhandlungs-)mächtig zu Buche schlagen. Umgekehrt erzeugen genau diese Interessen nach vier Jahren einen zunehmenden Druck, endlich zu einer Lösung zu kommen. Genau deshalb bin ich optimistisch, dass es diesmal gelingt.
Die Streitpunkte waren über die Jahre die stets gleichen: Wieviel Flexibilität soll es bei der Nutzung der Mechanismen der Kooperation und des Emissionshandels geben? Wie können Doppelzählungen von Anstrengungen gegenüber den national bestimmten Beiträgen der Länder (NDCs) vermieden werden? Wie hoch sollen die Transaktionen unter Artikel 6 besteuert werden? Und in welchem Umfang können CDM-Aktivitäten und Emissionsrechte aus dem Kyoto-Protokoll übertragen werden?
Doppelzählungen vermeiden
Eigentlich ist durch das Pariser Übereinkommen geklärt, dass es keine Doppelzählungen von gehandelten Emissionsreduktionen geben darf. Jede Emissionsgutschrift für das Käuferland muss beim Verkäuferland als Verringerung der nationalen Beiträge gegengebucht werden. Man nennt das korrespondierende Anrechnung. Aber da bei den NDCs keine Klarheit besteht, besteht auch bei der korrespondierenden Anrechnung von Emissionsrechten aus Artikel 6 keine Klarheit. Wie kann das kommen?
Viele NDCs betreffen nur ausgewählte Sektoren, etwa die Energiewirtschaft, während andere Sektoren wie die Landwirtschaft wegen mangelnder Daten oder Maßnahmen zur Emissionsreduktion besonders bei den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) nicht zum Katalog der Klimaziele dieser Länder zählen. Das gilt besonders für Nicht-CO2-Treibhausgase wie Methan und Stickstoffdioxid. Diese Emissionen sind insoweit „Outside-NDC“ und können ohne korrespondierende Anrechnung transferiert werden. Die Länder machen geltend, dass erst durch die Handelsmöglichkeit die Institutionen in diesem Bereich geschaffen werden, um in der Zukunft erweiterte NDCs zu ermöglichen. Kritiker machen dagegen geltend, dass die Möglichkeit des Handels einen Fehlanreiz bietet, diese Institutionen gar nicht erst aufzubauen.
Aktuell wird wieder über „Outside NDC“-Optionen gestritten. Viele Entwicklungs- und Schwellenländer, darunter Brasilien, wehren sich gegen einen schnellen Aufbau eines Systems lückenloser absoluter Emissionsziele („Economy-wide absolute emission targets“) wie in den Industrieländern. Das sehen die besonders vom Klimawandel bedrohten Inselstaaten, aber auch viele Industrieländer anders. Die Frage nach „Strenge bei der Vermeidung von Doppelzählungen“ ist also keine klassische Nord-Süd-Problematik. Das gilt generell für Artikel 6: Die Koalitionen sind „bunt“ und gruppieren sich nicht entlang der üblichen Grabenlinien der Klimaverhandlungen. Zur Erinnerung: Artikel 6 ist am Ende der COP25 in Madrid nicht an Brasilien gescheitert, sondern an einer ungewöhnlichen Front von Brasilien, Indien und – später dazugekommen – China in der wieder eingenommen Führungsrolle für die G77.
Wie sieht es jetzt in Glasgow mit dem Thema Artikel 6 aus?
Erneut geht es also um die „Outside-NDC“-Optionen. Dieses Mal hauptsächlich um die Nicht-CO2-Gase wie Methan. Viele Länder des Südens berichten dazu – unter anderem mangels Messungs- und Erfassungssystemen – keine Ziele in ihren NDCs. Ich höre daraus den Ruf nach Mitteln zum Kapazitätsaufbau für eine umfassende Berichtserstattung, auf den das in der vergangenen Woche beim Treffen der G20 gestartete internationale Beobachtungszentrum für Methanemissionen (IMEO) jedenfalls eine Antwort sein könnte.
Es geht auch wieder um die Besteuerung der zwischenstaatlichen und privaten Handelstransaktionen unter Artikel 6. Hieran haben die Entwicklungsländer schon in Madrid nicht rütteln lassen. Es ist klug und wäre angesichts der von den USA befeuerten „Milliarden-zu-Billionen“-Bewegung in der ersten Woche befremdlich, wenn eine Besteuerung von Transaktionen im Emissionshandel von vorgeschlagen drei bis fünf Prozent nicht akzeptiert würde.
Damit dürfte es eigentlich nur noch um die Frage der Fortführung und Übertragung von Rechten aus dem Kyoto-Protokoll gehen. Das Problem ist aber ein vorübergehendes. Die CDM-Projekte aus der Vor-2020-Zeit gehen alle einmal zu Ende, gute wie schlechte. Mit zeitlichen Befristungen und anderen Methoden des Ausschleichens können hierfür Lösungen gefunden werden. Der wirtschaftliche und politische Druck, in neue Projekte unter dem SDM zu gehen, ist dagegen mittlerweile so hoch, dass ein Festhalten am Alten heute weniger wiegt als die Blockaden für das Neue. Daher mein verhaltener Optimismus, dass der Sack „Artikel 6“ dieses Mal endlich zugemacht werden kann.