Gibt es wirklich einen Klimawandel?
Behauptung: „Die Gletscher schmelzen gar nicht“
Behauptung: „Aus allen Teilen der Welt gibt es Berichte, dass die Gletscher nicht mehr schrumpfen, sondern wieder wachsen, aus Alaska zum Beispiel, aber auch aus Kanada, Neuseeland, Grönland oder Norwegen.“
Antwort: Kurzfristige oder punktuelle Beobachtungen sagen wenig aus über den gesamten Trend. Tatsächlich ist an einigen Gletschern ein Massenzuwachs zu beobachten – doch das sind Einzelfälle. Insgesamt betrachtet zieht sich die große Mehrzahl der weltweit rund 200.000 Gletscher zurück, und seit Mitte der 1970er Jahre beschleunigt sich diese Entwicklung.
Gletscher reagieren direkt und relativ schnell auf Änderungen der atmosphärischen Bedingungen. Wenn die Temperaturen steigen, kommt es im Sommer zu einem verstärkten Abschmelzen. Im Winter hingegen nimmt die Eismenge zu, wenn es zu stärkeren Schneefällen kommt. Den stärksten Einfluss auf die Entwicklung der Gletscher hat aber die Lufttemperatur – zwischen ihrem Verlauf und den Schwankungen in der Gletscherausdehnung besteht ein starker Zusammenhang (Greene 2005): Grundsätzlich ziehen sich Gletscher zurück, wenn die Lufttemperatur steigt. Weil Gletscher dermaßen empfindlich auf Temperaturänderungen reagieren, sind sie wichtige Indikatoren für die Auswirkungen der Erderwärmung.
Für verlässliche Aussagen zur Entwicklung der Gletscher sollte nicht nur ihre flächenmäßige Ausdehnung betrachtet werden, sondern ihr Volumen. Diese sogenannte Gletschermassenbilanz bestimmen Glaziolog:innen, also Eis- und Gletscherfachleute, anhand verschiedener Techniken. Zu den direkten Methoden gehören Ablationspegel. Dies sind Stäbe mit Skalen, die in die Gletscheroberfläche installiert werden – an der Veränderung der Länge des herausragenden Endes lässt sich ablesen, wie viel Dicke der Gletscher verloren hat. Eine zweite Methode sind Schneeschächte, die in den Gletscher gegraben werden und in denen sich die verschiedenen Schichten abgelagerten Eises (inklusive Lagen von wiedergefrorenem Schmelzwasser) untersuchen lassen. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen werden zusammen mit anderen Daten vom World Glacier Monitoring Service (WGMS) in Zürich gesammelt, ausgewertet und veröffentlicht.
Neben diesen direkten Untersuchungsmethoden können Gletscher seit einiger Zeit auch per Satellit vermessen werden. Dabei gibt es wichtige Unterschiede: Einige Satelliten arbeiten mit optischen Sensoren, andere mit Radar – sie haben aber ihre Schwierigkeiten bei geröllbedeckten Gletschern. Mit diesen Methoden kann die Oberflächentopographie der Gletscher bestimmt werden und so über den Zeitverlauf auch der Verlust (oder eventueller Gewinn) an Eismasse. Andere Satelliten, etwa die deutsch-amerikanischen Missionen GRACE und GRACE-FO, können zwar sehr genau das Schwerefeld der Erde und damit die Massenänderung auch von geröllbedeckten Gletschern vermessen – aber sie können zum Beispiel keine einzelnen Gletscher vermessen. Grundsätzlich bieten Satellitenverfahren die Möglichkeit, Messungen über eine größere Fläche durchzuführen, zum Beispiel vergletscherte Gebirge. Aber weil die Daten nicht sehr weit zurückreichen, sind auf ihrer Basis noch keine verlässlichen Langzeitaussagen zur Gletscherentwicklung möglich.
Direkte Messungen der Gletschermasse
Seit 1894 haben der WGMS und seine Vorgängerinstitutionen Daten zur Massebilanz von weltweit mehr als 400 Gletschern gesammelt. Anfangs wurden nur einige wenige Gletscher überwacht, und bis heute kommen die meisten Daten von der Nordhalbkugel. Doch im Laufe der Jahre wurde die Datenbasis breiter, was ein umfassenderes Bild der globalen Massenbilanzen möglich machte. Die besten Ergebnisse liefern langfristige, ununterbrochene und bis heute andauernde Gletscherbeobachtungen. 41 Gletscher in verschiedenen Gebirgsregionen auf der ganzen Welt werden seit mindestens 30 Jahren laufend überwacht (einige Gletscher sogar schon seit 1960 oder noch länger). Sie dienen der Wissenschaft als "Referenzgletscher".
Was zeigen nun diese Gletscherbeobachtungen? In Abbildung 1 sind beispielhaft die Masseänderungen einzelner Gletscher in den Jahren 2018/2019 aufgeführt (die jeweils aktuellsten Daten finden sich auf der WGMS-Website unter dem Punkt "preliminary mass balance data" oder detailliert aufbereitet im zweijährlich erscheinenden "Glacier Mass Balance Bulletin").
Abbildung 1: Gletschermassenbilanz für die Jahre 2018/2019, negative Werte bedeuten Gletscherschwund; Quelle: WGMS
Die Tabelle zeigt, dass einige Gletscher tatsächlich an Masse gewinnen - doch dies ist keinesfalls ein Beleg dafür, dass es den Klimawandel oder die Erderwärmung nicht gebe. Stattdessen können Zuwächse zum Beispiel dadurch erklärbar sein, dass es lokal zu stärkeren Schneefällen und damit einem Zuwachs an Gletschermasse kam - entweder durch natürliche Wetter- und Klimaschwankungen oder mancherorts sogar als Folge des Klimawandels.
Doch konzentriert man sich bei der Ermittlung der globalen Gletscherentwicklung nur auf diese wachsenden Gletscher, ergibt sich ein irreführendes Bild: Lediglich 19 der 166 insgesamt untersuchten Gletscher zeigten 2018/2019 eine Massenzunahme - die große Mehrzahl hingegen (88 Prozent) verliert Eismasse.
Wie verändert sich die globale Gletschermasse nun auf lange Sicht? Hier liefert der WGMS Daten für seine langjährig beobachteten Referenzgletscher ebenso wie für sämtliche Gletscher, zu denen Daten verfügbar sind. Das Ergebnis für die Zeit von 1930 bis 2017 zeigt Abbildung 2. Auch wenn die Kurven sich leicht unterscheiden (je nachdem, welche Gletscher einbezogen und mit welcher Methode ein Durchschnitt der Daten gebildet wurde), der Trend für die weltweite Massenbilanz zeigt ganz klar und zunehmend steil nach unten.
Abbildung 2: Kumulative Massenbilanzkurven 1930-2017 für sämtliche erfasste Gletscher gemittelt nach Regionen (durchgehende schwarze Linie; die graue Linie zeigt zusätzlich die Massebilanz nach geodätischer Berechnung bei Annahme einer durchgehenden Eisdichte von 850 Kilogramm pro Kubikmeter). Die unterbrochenen Linien zeigen die Entwicklung der Referenzgletscher (gestrichelte Linie: Mittel aller Daten; gepunktete Linie: Daten gemittelt nach Regionen); Quelle: WGMS 2020, Fig. 2.2 (Ausschnitt)
Im ersten drei Jahrzehnten sind teils starke Schwankungen und ein großer Massenverlust zu beobachten (damals wurden jedoch nur einige wenige Gletscherüberwacht, sodass diese Daten nicht als repräsentativ für sämtliche Gletscher weltweit bezeichnet werden können). Ab Beginn der 1960er Jahre verlangsamte sich das Schmelzen (parallel zu einer schwächeren Phase der Erderwärmung).
Doch danach, ab etwa 1975, beschleunigte sich der Gletscherschwund wieder. Dieses Muster deutet darauf hin, dass der Gletscherschwund der vergangenen Jahrzehnte hauptsächlich die etwas verzögerte Reaktion auf die beschleunigte menschengemachte Erderwärmung seit etwa 1970 ist (Greene 2005; Marzeion et al. 2018; IPCC 2019, SCOCC, Kapitel 2.2.3; Roe et al. 2021, Clauzel et al. 2023).
Satellitenmessungen der Gletschermasse
Während direkte Messdaten nur für relativ wenige und vergleichsweise einfach erreichbare Gletscher vorliegen, können mit den verschiedenen Satellitentechniken die Gletscher weltweit vermessen werden. Solche Daten liegen erst für etwa zwei Jahrzehnte vor, also für einen viel kürzeren Zeitraum - aber das Ergebnis ist dasselbe: Während einzelne Gletscher in einigen Regionen wachsen, nimmt weltweit betrachtet die Eismasse der Gletscher stetig ab.
Laut Gardner et al. 2013 zum Beispiel gingen zwischen 2003 und 2009 weltweit jährlich 259 Gigatonnen Eismasse verloren (+/- 28 Gt/a), zu den am stärksten betroffenen Regionen gehörten Nordkanada, Alaska, die grönländischen Küsten, die Anden und Zentralasien. Eine Studie, die Satellitendaten und direkte Messungen von 19.000 Gletschern weltweit kombinierte und einen Zeitraum von 1961 bis 2016 betrachtete, kam zu dem Ergebnis, dass der globale Gletscherschwund in früheren Untersuchungen wohl noch unterschätzt wurde (Kemp et al. 2019).
Abbildung 3: Regionale Verteilung des Massenverlustes der weltweiten Gebirgsgletscher – je größer der rote Kreis, desto mehr Eis ging zwischen 1961 und 2016 verloren. Am meisten Masse verloren die GletscherAlaskas (Kreis „ALA“ links oben), einzig in Südwest-Asien gab es einen leichten Zuwachs der Gletschermasse (blauer Kreis ASW in der rechten Bildmitte). In der weltweiten Summe betrug der Eisverlust über fünfeinhalb Jahrzehnte mehr als 9.000 Gigatonnen (der größte Kreis „Global“, links unten); Quelle: WGMS/Zemp et al. 2019
Eine sehr umfangreiche und detaillierte Studie hat die Entwicklung in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts betrachtet (Hugonnet et al. 2021). Laut dieser Untersuchung verloren die Gletscher der Welt zwischen 2000 und 2019 jährlich rund 267 Gigatonnen (+/- 16 Gigatonnen) - mit stark zunehmender Tendenz. Diese Studie zeigte auch, dass einzelne Massenzunahmen in manchen Regionen (etwa Teilen des Himalaja, siehe hellblaue Punkte in Abbildung 4) ein vorübergehendes und/oder seltener werdendes Phänomen sind.
Abbildung 4: Durchschnittlicher Höhenverlust von Gletschern in verschiedenen Teilen der Erde in den Jahren 2000 bis 2019 - die Fläche der Kreise zeigt die Größe der jeweils vergletscherten Gebiete an, die Farbe ihren Entwicklungstrend: gelbe, orange und rote Töne stehen für zunehmend starken Eisverlust, blaue Töne hingegen für Eiszuwächse; Quelle: Hugonnet et al. 2021
Die Gebiete mit dem größten Massenverlust, vermerkt der Sechste Sachstandsbericht des IPCC von 2021, finden sich in Alaska, am Rand Grönlands und in Kanada, am schnellsten schrumpfen die Gletscher demnach in den Anden, Neuseeland, Alaska, Zentraleuropa und Island (IPCC 2021, AR6, Band 1, Kapitel 8.3.1.7.1).
Wegen der bereits ausgelösten Erderhitzung, betonen die Fachleute des IPCC, werden die Gletscher noch für Jahrzehnte oder Jahrhunderte weiterschmelzen (IPCC 2021, AR6, SPM B.5.2). Wie viel Gletschereis in Zukunft verlorengeht, darauf hat die Menschheit jedoch noch einen starken Einfluss. In seinem Sonderbericht zu Ozeanen und Eismassen von 2019 (SROCC) hat der IPCC die Folgen verschiedener Emissionsszenarien für elf untersuchte Gebirgsregionen beziffert: Entschlösse sich die Menschheit zu schnellem und strengem Klimaschutz, würden dort bis zum Jahr 2100 weitere 22 bis 44 Prozent der Gletschermasse schmelzen, bei ungebremstem Ausstoß von Treibhausgasen jedoch viel mehr, nämlich schätzungsweise 37 bis 57 Prozent. Für etliche Gletscher jedoch ist es wohl bereits zu spät, vor allem in Regionen mit eher kleinen Gletschern, dazu gehören etwa die Alpen, Pyrenäen, Skandinavien oder der Kaukasus. "Viele Gletscher dort werden verschwinden, egal wie sich die Emissionen entwickeln." (IPCC 2019, SROCC, Kapitel 2, Executive Summary und Cross Chapter Box 6).
Fazit
Nach gründlicher Sichtung der gesamten Forschungsliteratur zu Gletschern kam der IPCC in seinem Sechsten Sachstandsbericht 2021 zu einer klaren Bewertung (Band1, Kapitel 2.3.2.3, S. 68):
„Es lässt sich mit sehr großer Gewissheit sagen, dass die Gletscher weltweit sich bis auf wenige Ausnahmen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgezogen haben und sich weiter zurückziehen. Der derzeitige globale Charakter des Gletschermassenverlusts (fast alle Gletscher ziehen sich gleichzeitig zurück) ist ungewöhnlich für die vergangenen mindestens zwei Jahrtausende (mittlere Gewissheit). Die Gletschermassenverluste haben seit den 1970er Jahren deutlich zugenommen (hohe Gewissheit), … und die Eisverluste werden weitergehen.“
Klar ist für den IPCC auch, dass der menschengemachte Klimawandel die Hauptursache dieser Entwicklung ist.
Betrachtet man lediglich wenige handverlesene, zunehmende Gletscher, erhält man also einen falschen Eindruck von der globalen Gletscherentwicklung. Eine umfassendere Betrachtung zeigt, dass sich die Gletscher weltweit zurückziehen.
Dana Nucitelli/klimafakten.de, Februar 2012;
zuletzt aktualisiert: Dezember 2021