29.09.2020
Ralf Nestler

Suche nach der Zukunftsformel

Während der Mosaic-Expedition wurden in den vergangenen zwölf Monaten in der Arktis einmalige Daten erhoben. Sie helfen, das komplexe Klimageschehen auf unserer Erde genauer zu verstehen und entsprechende Modelle zu verbessern.

Hitzewellen, Stürme und Starkregen - wie sieht unsere Welt in 20, 50 oder 100 Jahren aus? Diese Frage ist nicht nur wissenschaftlich relevant, sie trifft uns alle in unserem Alltag. Doch wie lassen sich die Folgen des fortschreitenden Klimawandels vorhersagen? Welche Rolle spielen insbesondere die Prozesse in der Arktis? Was uns erwartet, versuchen Forscherinnen und Forscher mit Klimamodellen abzuschätzen.

Expeditionsleiter Markus Rex
Expeditionsleiter Markus Rex
Expeditionsleiter Markus Rex
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Alfred-Wegener-Institut

Einen einmaligen Beitrag leistet hierzu die Expedition MOSAiC (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate). Ein Jahr lang führte sie das Forschungsschiff „Polarstern“ mit wechselnden Teams durch das Nordpolargebiet. Obwohl die Arktis geografisch von den meisten Menschen weit entfernt ist, spielt sie eine maßgebliche Rolle für das globale Klima, wie der Expeditionsleiter Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), erklärt.

„Die Lufttemperaturen in der Arktis steigen mehr als doppelt so schnell wie in vielen anderen Teilen der Welt.“ Das führe zu grundlegenden Veränderungen, beispielsweise nehme in den Sommerhalbjahren die Fläche und Stärke des Meereises deutlich ab.

„Das beeinflusst auch die Atmosphäre über Mitteleuropa“, sagt der Wissenschaftler. „Je besser wir solche Zusammenhänge verstehen, umso eher gelingt es, diese in Klimamodelle einzufügen.“ Nicht allein Klimasimulationen, die in die weitere Zukunft weisen, würden dadurch verbessert, sondern auch Wettermodelle, die die Aussichten für die nächsten Tage angeben.
 
Im Grunde sei ein Klimamodell eine gewaltige Rechenaufgabe, sagt Annette Rinke, eine der Leiterinnen des MOSAiC-Modellierungs-Teams. „Man benötigt Formeln, die beispielsweise beschreiben wie viel Wärme ausgetauscht wird zwischen der Atmosphäre, dem Boden und dem Ozean, wie sich Luftmassen bewegen, wie Niederschläge verteilt werden und so weiter.“ Denn das Klima ist dynamisch. Wenn etwa die Durchschnittstemperatur steigt, ist das Eis im Nordpolarmeer dünner und hat mehr offene Wasserflächen – hier wärmt sich im Sommer das Wasser dank Sonnenstrahlung stärker auf und gibt im Herbst länger Wärme in die Atmosphäre zurück, so dass die ursprünglich angenommene Wärmebilanz nachgebessert werden muss. „Dieses Beispiel zeigt, warum Klimamodelle sehr schnell sehr komplex werden“, sagt die AWI-Wissenschaftlerin. „Und dass sie zwangsläufig Ungenauigkeiten haben.“

Annette Rinke leitet das Modellierungsteam
Annette Rinke leitet das Modellierungsteam
Annette Rinke leitet das Modellierungsteam
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privat

Ein Blick zurück für die Zukunft

Um die gröbsten Fehler aufzuspüren, werden Klimamodelle überprüft. An der Wirklichkeit. So lassen die Forscherinnen und Forscher etwa regionale Modelle für die Arktis im Jahr 1979 beginnen und schauen, ob die Temperaturverteilung oder der Rückgang des Meereises im Sommer in jüngerer Vergangenheit adäquat dargestellt werden. Nur wenn dieser Check einigermaßen zufriedenstellend ist, können sie den Ergebnissen trauen, die beim Weiterrechnen bis zum Ende dieses Jahrhunderts angezeigt werden. Um größere Sicherheit zu erlangen, lässt man meist mehrere verschiedene Klimamodelle rechnen und verändert einzelne Parameter ganz leicht, um ein Ensemble unterschiedlicher Resultate zu erhalten. Das verschafft zusätzliche statistische Sicherheit.

Dennoch, gerade beim Meereis zeigen  Modelle, die Ozean und Atmosphäre miteinander verknüpfen, oftmals weniger Verlust an als in der Realität jeden Sommer zu sehen ist, berichtet Annette Rinke. „Das zeigt, dass es Rückkopplungen in und zwischen beiden Systemen gibt, die wir noch nicht ausreichend verstanden haben.“ Wie sich weniger Eis auf den Wärmehaushalt und umgekehrt weiteres Abschmelzen auswirkt, ist den Forschern natürlich bekannt und in die Modellalgorithmen eingepflegt. Allerdings genügen diese Prozesse allein nicht, um die Abweichung schlüssig zu erklären. „Es muss weitere geben“, sagt Rinke. „Vor allem die Rolle der Mischphasenwolken, die bei tiefen Temperaturen noch flüssiges Wasser enthalten, für die Wärmebilanz und der turbulente Austausch von Wärme, Feuchte und Impuls sowie Gasen zwischen dem Ozean und den ersten Metern der Lufthülle ist aus Atmosphärensicht zu wenig verstanden.“

Von der Tiefsee bis in die Atmosphäre

Windgeschwindigkeit, Sauerstoffgehalt im Eis, Wassertemperatur – während der MOSAiC-Expedition wurde eine gewaltige Menge an Daten erhoben. Die Messungen erfolgten auf, in und unter dem Eis sowie bis vier Kilometer tief auf den Meeresboden und 35 Kilometer hoch in die Atmosphäre.

Supercomputer mit 100.000 Prozessorkernen
 
Gerechnet werden Klimamodelle unter anderem am AWI in Bremerhaven sowie am Deutschen Klimarechenzentrum in Hamburg (DKRZ). Der Supercomputer dort ist spezialisiert auf Klimarechnungen. Sie erfordern nicht nur viel Leistung, sondern auch viel Speicherplatz. Mehr als 100.000 Prozessorkerne hat die aktuelle Maschine, sagt Jana Meyer vom DKRZ. „Die Modelle werden eigens so programmiert, dass sie in viele Teilaufgaben zerlegt werden können, die parallel von den einzelnen Kernen berechnet werden.“ Ebenso wichtig ist auch der rasche Datenaustausch zwischen den Prozessorkernen, schließlich gehen beim Klima viele Dinge ineinander über – man denke nur an einen Sturm, der sich in allen drei Raumrichtungen ausbreitet und fortbewegt. Auch das muss der Supercomputer nachvollziehen können.

Jana Meyer vom Deutschen Klimarechenzentrum in Hamburg
Jana Meyer vom Deutschen Klimarechenzentrum in Hamburg
Jana Meyer vom Deutschen Klimarechenzentrum in Hamburg
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privat

Im Lauf der Zeit wurde die Auflösung der Modelle immer besser. Bei globalen Modellen werden mittlerweile Gitterzellen gerechnet, die nur noch 2,5 mal 2,5 Kilometer klein sind, das sind – verteilt über den Globus – 84 Millionen Zellen, rechnet Meyer vor. „In der Vertikalen kommen dann noch 90 Schichten dazu, so dass es am Ende siebeneinhalb Milliarden Zellen sind.“

Nicht verwunderlich, dass die Rechnertechnik schnell veraltet, wenn die Klimamodelle zunehmend komplexer werden. Das DKRZ wird seinen fünf Jahre alten Supercomputer 2021 durch ein neues Modell ersetzen, das – genau wie der jetzige – in der Liste der Supercomputer weltweit in der Top-100-Liga rechnet, bezogen auf den Speicher sogar unter den Top-10 rangiert.

Auch die Wettervorhersage wird genauer

Damit können Klimamodelle noch feiner aufgelöst beziehungsweise mit zusätzlichen Parametern berechnet werden, die unter anderem von der MOSAiC-Expedition herrühren. Die höhere Genauigkeit ist keineswegs nur von akademischem Interesse, wie Annette Rinke am Beispiel der Arktis deutlich macht: „Eine präzise Meereis-Vorhersage ist wichtig für die Schifffahrt, die immer weiter zunimmt, da über die Nordrouten Zeit und Kraftstoff gespart werden können.“ Auch das Wetter in Mitteleuropa wird von der Arktis beeinflusst: Friert zum Beispiel das Meer im Spätherbst langsamer zu, steigen mehr Wärme und Feuchtigkeit auf. Über mehrere Zwischenschritte stört dies das Starkwindband in unseren Breiten, den Jetstream. „Infolgedessen können sich Wetterlagen für längere Zeit über Europa stabilisieren und festsetzen.“

Die rund 170 an MOSAiC beteiligten Wissenschaftler haben eine Fülle von Daten erhoben, um solche Details genauer zu fassen. Ellen Damm erforscht seit gut 20 Jahren biogeochemische Kreisläufe in der Arktis. „Das sind zum Beispiel die Wege, die das Treibhausgas Methan nimmt“, sagt die AWI-Forscherin. Freigesetzt wird es aus tauendem Permafrostboden oder wenn sich Gashydrate am Meeresboden auflösen. „Viele haben die Vorstellung: Am Meeresgrund macht es blobb, Gasblasen steigen auf und entweichen in die Atmosphäre.“ Doch das stimme so nicht. „Ein größerer Teil wird im Wasser oxidiert zu Kohlendioxid“, sagt sie. „Außerdem ist das Meerwasser im Sommer geschichtet, so dass kaum etwas in höhere Schichten gelangt, ein Austausch ist erst im Winter möglich.“ Genaue Messungen dazu gab es bisher kaum, da die meisten Forschungsfahrten im Sommer stattfinden.

Daten für alle

Die Daten wurden über das auf dem Eis erweiterte Computernetzwerk zentral auf dem Forschungsschiff „Polarstern“ in einem 700 Terabyte großen Speicher gesammelt, berichtet Antonia Immerz vom AWI. Sie war als Data Manager zeitweise an Bord. Nach jedem Fahrtabschnitt wurden die Daten zum AWI gebracht, wo sie ebenfalls zentral abgelegt und so für die Wissenschaft zugänglich sind. Neben den reinen Messwerten sind auch Metadaten hinterlegt. Sie geben beispielsweise an, zu welchem Zeitpunkt die Messung erfolgte, an welcher geografischen Position, mit welchem Gerät und wie dieses kalibriert war. „So können die Daten auch für andere Forschungsfragen verwendet werden.“ In den nächsten drei Jahren sind die MOSAiC-Daten zunächst den Teilnehmern für ihre Projekte zugänglich. Ab 2023 werden sie kostenlos der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.

MOSAiC war für Ellen Damm eine große Chance. Von Dezember 2019 bis Juni 2020 war sie an Bord der „Polarstern“ beziehungsweise an den Messpunkten auf dem Eis. Mit ihrem Team hat sie Eiskerne und Wasserproben entnommen, um ihre chemische Zusammensetzung zu bestimmen.
Zurück in Bremerhaven ist die Forscherin begeistert. „Wir haben tolle Daten“, sagt sie. Das heißt: Die vermuteten Transportwege von Methan, aber auch chemische Reaktionen, können sie und ihr Team endlich genauer beziffern. Die Auswertung dauert noch an, erste wissenschaftliche Publikationen werden vorbereitet. Diese werden von weiteren Fachkollegen begutachtet und diskutiert, so dass die Wissenschaftler ein immer besseres Bild davon bekommen, wie der Methankreislauf in der Arktis funktioniert. Diese Erkenntnisse werden dann in Programmcodes übersetzt, um Klimamodelle weiter zu verbessern.

So wie Ellen Damm geht es vielen Forscherinnen und Forschern. „Wir haben mit MOSAiC einzigartige Daten erhoben, insbesondere zu dem gekoppelten Klimasystem der Arktis im Winter, sagt Annette Rinke, die als Modelliererin einen guten Überblick hat. „Das ermöglicht uns, maßgebliche Prozesse besser zu verstehen und in Modelle einfließen zu lassen.“ Etwas Geduld müsse man aber haben. „Bis erste Neuerungen in Klimamodellen ankommen, kann es durchaus vier, fünf Jahre dauern.“

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