Experten wollen ein Klima-Navi
Deutschland hat sein CO2-Ziel für 2020 vor allem wegen der Corona-Beschränkungen erreicht. Für die künftige Klimapolitik ist deshalb mehr Engagement nötig, meint der neue Expertenrat für Klimafragen. Er fordert zuverlässigere Daten und frühzeitigere Planung.
Vor wenigen Wochen erst, Mitte März, hat das Umweltbundesamt eine erste, vorläufige Bilanz zur Umsetzung des deutschen Klimaschutzgesetzes gezogen. Insgesamt sanken demnach die Treibhausgasemissionen 2020 binnen Jahresfrist um 8,7 Prozent – auch wegen des Wirtschaftseinbruchs infolge der Corona-Pandemie. Der Gebäudesektor, in dem Kohlendioxid (CO2) vor allem beim Heizen entsteht, überschritt als einziger die zulässige Menge an Emissionen. Vom neuen Expertenrat für Klimafragen wurden diese Daten am Donnerstag mit dessen erster Stellungnahme bestätigt.
Expertenrat für Klimafragen
Umweltbundesamt
Die Aufgaben des Expertenrats für Klimafragen sind im Klimaschutzgesetz von Ende 2019 geregelt. Die Bundesregierung hat in das Gremium fünf Fachleute unterschiedlicher Disziplinen berufen:
- Hans-Martin Henning, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE)
- Brigitte Knopf, Generalsekretärin am Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC)
- Marc Oliver Bettzüge, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) an der Universität zu Köln
- Thomas Heimer, Professor für Innovationsmanagement und Projektmanagement an der Hochschule RheinMain
- Barbara Schlomann, Leiterin des Geschäftsfelds Energiepolitik am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI)
Den Expertenrat hatte die Bundesregierung infolge des Klimaschutzgesetzes eingesetzt. Mit dem 2019 verabschiedeten Gesetz steckt sich die Bundesregierung für jedes Jahr genauere Klimaziele. Für sechs Sektoren von Energie bis Landwirtschaft schreibt es kontinuierlich sinkende Emissionsmengen vor. Damit bekommen auch die einzelnen Ministerien der Bundesregierung detailliertere Vorgaben zur CO2-Reduktion.
Sofortprogramm für Gebäude
Der Expertenrat für Klimafragen soll die Emissionsdaten ebenso überprüfen wie das Sofortprogramm, welches das für den Bereich Bauen zuständige Innenministerium nun bis zum 15. Juli vorzulegen hat. Die Bundesregierung muss darin konkrete Maßnahmen benennen, um sicherzustellen, dass die CO2-Grenzen in den kommenden Jahren eingehalten werden. Jährlich sollen die CO2-Emissionen laut Klimaschutzgesetz allein bei Gebäuden um fünf Millionen Tonnen sinken. Im vergangenen Jahr wurde dieses Ziel um zwei Millionen Tonnen verfehlt, die nun zusätzlich vermieden werden müssen.
„Zusätzliche Maßnahmen für den Gebäudesektor sollte die Bundesregierung nicht nur bis Juli formulieren, sondern vor allem noch vor der Bundestagswahl auf den Weg bringen. Denn die zügige Reduktion der Emissionen erfordert jetzt die schnelle Umsetzung von gezielten Maßnahmen“, sagt Daniela Jacob, Direktorin des Climate Service Center Germany (GERICS) und Koordinatorin des Bereichs Mitigation der Helmholtz-Klima-Initiative.
Verschärfung durch europäisches Klimaziel 2030
Noch größeren Handlungsbedarf sieht der Expertenrat schon bald im Verkehrssektor. Durch die Corona-Beschränkungen seien im vergangenen Jahr viele Autofahrten weggefallen, hatte schon das Umweltbundesamt angemerkt. Wäre der Trend der vergangenen Jahre fortgeschrieben worden, hätte der Verkehr sein Sektorziel 2020 um 15 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente verfehlt, schreibt der Expertenrat nun in seiner Stellungnahme. „Spätestens 2022 wird der Verkehr wieder auf dem alten Emissionspfad liegen“, sagte Brigitte Knopf, stellvertretende Vorsitzende des Gremiums und Generalsekretärin am Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC).
Mittelfristig wird Deutschland sogar seinen gesamten Fahrplan für den Klimaschutz neu ausrichten müssen. In den nächsten Wochen könnte in der EU die endgültige Einigung fallen, das unionsweite Klimaziel für 2030 von 40 auf mindestens 55 Prozent Treibhausgasminderung gegenüber 1990 zu erhöhen. Für den Sommer sind Vorschläge der EU-Kommission zu erwarten, wie das verschärfte EU-Ziel auf die einzelnen Sektoren aufgeteilt werden soll und welche Rolle dabei der Emissionshandel spielen kann. Für den bestehenden europaweiten Zertifikatehandel in den Sektoren Industrie und Energieerzeugung rechnet der Expertenrat mit einer Zielerhöhung von 43 auf 65 Prozent und für die übrigen Sektoren in Deutschland mit einem Minderungsziel von 46 bis 50 statt 38 Prozent.
Korrekturbedarf bei vorläufigen Emissionsdaten
Die Folgen für das deutsche Klimaschutzgesetz werden noch die nächste Bundesregierung beschäftigen. Deshalb sollten aber vorausschauend schon Szenarien erstellt werden, um die Bedeutung höherer EU-Ziele für die Sektoren des deutschen Klimaschutzgesetzes zu ermitteln, sagte Brigitte Knopf. Der Expertenrat schlägt in seiner Stellungnahme ein genaueres Klima-Navi vor, um die Klimapolitik in Deutschland besser auf ihre Ziele auszurichten.
Die Fachleute wiesen darauf hin, dass die endgültigen Emissionsdaten in früheren Jahren mitunter stark von den vorläufigen Daten abwichen. In der Klimapolitik spielten diese Abweichungen für einzelne Jahre bislang keine herausragende Rolle, denn die Klimapolitik setzte sich Ziele für Jahrzehnte. Mit dem neuen Klimaschutzgesetz gibt es aber jährliche Höchstmengen für Emissionen, deshalb bekommen jährliche Korrekturen bei Emissionsdaten nun eine hohe politische Bedeutung.
In der Vergangenheit habe der Korrekturbedarf bei den vorläufigen Emissionsdaten teils ein Vielfaches der nun im Klimaschutzgesetz vorgesehenen jährlichen Minderungsmengen betragen. Dies sei ein „bemerkenswerter Sachverhalt“, sagte der Vorsitzende des Expertenrats und Leiter des Fraunhofer ISE-Instituts, Hans-Martin Henning.
Die Expertinnen und Experten empfehlen deshalb, weitere Datenquellen zu erschließen und die Methoden der Emissionserhebung zu erweitern, zum Beispiel durch physikalische Messungen. Henning wies darauf hin, dass sich aus der Klimapolitik Rechtsfolgen ergeben, die durch Daten gut begründet sein müssten.
Eigene Ziele für Landnutzung und Forstwirtschaft
Besondere Bedeutung misst der Expertenrat einer verbesserten Datenbasis bei den Emissionen aus Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) zu. Es sei zu überlegen, ob auch für diesen Sektor im Klimaschutzgesetz Minderungsziele formuliert werden könnten. Die Fachleute verwiesen auf mehrere Faktoren, die diesen Sektor zunehmend beeinflussen: die Nachfrage nach Biomasse und Land sowie Änderungen des Wettergeschehens.
Nachrichtlich könnten außerdem Emissionsdaten angegeben werden, die mit Importen und Exporten verbunden seien. Der Expertenrat begründet dies damit, dass klimapolitische Maßnahmen Verlagerungseffekte in andere Staaten auslösen könnten.