14.07.2022

Ein Jahr nach der Flut

Helmholtz-Themenschwerpunkt

In der Nacht vom 14. zum 15. Juli 2021 trafen unvorstellbare Wassermassen das Ahrtal. Bei dem Hochwasser starben 134 Menschen. Nach einem Jahr: Welches sind die wichtigsten Fortschritte im Umgang mit Sturzfluten, die eingeleitet wurden? In welchen Bereichen wurde kein oder zu wenig Fortschritt erzielt? Wo stehen wir mit unserer Anpassungsstrategie?

Christian Kuhlicke
Christian Kuhlicke
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Sebastian Wieding / UFZ

Kommunen klimasicher machen

Nach den verheerenden Folgen des Starkregens im Juli 2021 in mehreren Bundesländern fragen sich Städte und Gemeinden in ganz Deutschland, wie sich besser schützen und an Wetterextreme anpassen können. 22 Wissenschaftler:innen unter Koordination des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig hatten unmittelbar nach dem Ereignis fünf wesentliche Prinzipien definiert. Ein Jahr ist seitdem vergangen.

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Fünf Faktoren für Hochwasserrisiko

Atmosphärische Prozesse, Abflussbildung in der Landschaft, Prozesse im Fluss, Exposition und Anfälligkeit bestimmen über das Hochwasserrisiko – nicht nur im Ahrtal. Bruno Merz und Lorna Schütte haben gemeinsam eine Erklärgrafik erstellt.

Fünf Faktoren für Hochwasserrisiko
Fünf Faktoren für Hochwasserrisiko
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Lorna Schütte

Statements aus Wissenschaft und Praxis

Foto von Georg Teutsch
Foto von Georg Teutsch
Georg Teusch
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Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung

"Die Ahrtal-Katastrophe hat gezeigt, dass wir sehr viel vulnerabler gegenüber Starkregenereignissen sind als bisher angenommen. Wir haben teilweise verlernt, Naturgefahren ernst zu nehmen und uns vermehrt in Risikozonen ausgebreitet. Die bisherigen Dimensionierungen, Risikoanalysen und auch die Warnsysteme funktionieren für kleine Einzugsgebiete jedenfalls nicht. Da muss deutlich nachgebessert werden.  

Ich glaube, dass die riesige menschliche Katastrophe, aber auch der immense Schaden, der entstanden ist, und der trotz aller Zusagen schneller Hilfe immer noch sehr sichtbar ist, rechtfertigt, dass man für alle aufgrund der Lage, der Topographie, und des Untergrunds potentiell betroffenen Gebiete in Deutschland eine Impactanalyse durchführt. Das soll erstmal nur aufzeigen, was passieren würde, wenn ein ähnliches Ereignis in Mittelgebirgen wie zum Beispiel in Sachsen oder Baden-Württemberg stattfinden würde. Die Konsequenz wäre, dass man wüsste, welche Infrastruktur besonders betroffen wäre und entsprechende Alarm- und Evakuierungspläne ausarbeiten könnte.

Insgesamt glaube ich nicht, dass wir auf einem guten Weg mit unseren Anpassungsstrategien sowohl an Extremwetterereignisse als auch den Klimawandel sind, denn: in unserem überregulierten Land müssen wir erstmal alle Stellungnahmen aller Länder und aller Ressorts des Bundes und aller betroffenen Organisationen einsammeln und in Arbeitskreisen abstimmen, um dann verwässerte Kompromisse zu schließen die meist die Probleme nicht wirklich lösen, aber alle Interessen berücksichtigt haben. So werden wir die Klimakrise nicht meistern. Wir brauchen mutige Lösungen und müssen in Kauf nehmen, dass das eine oder andere auch mal schief geht!

Um die Gesellschaft besser auf das wachsende Risiko von Sturzfluten vorzubereiten, hat die Wissenschaft zum einen die Aufgabe seriös und kompetent die Ursachen solcher Ereignisse analysieren und darüber berichten. Dies erfolgt bisher nur teilweise. Zum Beispiel ist die Rolle des European Flood Assessment Systems (EFAS) bezüglich der Warnung in Einzugsgebieten, welche kleiner als 2000 km2 sind, wie etwas das Ahrtal, unklar. Hat das EFAS die sehr guten Niederschlagsvorhersagen wirklich adäquat in Überflutungswarnungen umgesetzt? Wieso hat jedes Bundesland dann noch eigene hydrologische Modellsysteme und wie gut waren deren Warnungen und waren diese untereinander abgestimmt?  Ich bin davon überzeugt, dass wir hier einen komplett neuen Aufschlag brauchen, ein nationales bzw. europäisches  Warn- und Vorhersagesystem, das auf der Grundlage der besten hydrologischen Modellsysteme operiert und direkt an die globalen Wettermodelle gekoppelt 24/7 im Internet on-line ist. Das ist wissenschaftlich und datentechnisch anspruchsvoll, aber in absehbarer Zeit machbar und sollte nicht allein irgendwelchen Ressorteinrichtungen, die dafür nicht gerüstet sind, überlassen werden. Spätestens beim nächsten Extremereignis wird sich das sonst rächen und keiner wird dann die Verantwortung übernehmen!

Darüber hinaus hat die Wissenschaft die Aufgabe zu untersuchen, inwieweit diese Art von Extremereignissen im Rahmen des Klimawandels zunehmen wird. Es liegt nahe anzunehmen, dass höhere mittlere Temperaturen auch zu mehr gespeichertem Wasser in der Atmosphäre führen, was allerdings noch nichts über das lokale Abregenverhalten, also die Dynamik des Niederschlagsprozesses, aussagt. Unsere globalen Klimamodelle müssen um mindestens eine Zehnerpotenz in der räumlichen und zeitlichen Auflösung besser werden, um für die Extremereignisse relevanten physikalischen Prozesse adäquat abbilden zu können. Da gibt es noch viel zu tun und wir müssen es jetzt tun! Eine kritische Analyse dazu, einschließlich eines Apells zu einer internationalen Initiative der Wissenschaft, haben wir gerade publiziert."

 

 

Klaus Piroth
Klaus Piroth
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privat

"Aus der Sturzflut haben wir gelernt, dass wir uns auf Hochwasser- und Starkregenereignisse vorbereiten müssen, die mit technischen Maßnahmen alleine nicht zu beherrschen sind. Die Fragen der Landnutzungen und die Vorbereitung auf Ereignisse wie die im Ahrtal  müssen auf breiter gesellschaftlicher Ebene diskutiert und im Hinblick auf unterschiedliche Einzugsgebiete geplant und umgesetzt werden. Die Wasserwirtschaft muss hier geeignete Bemessungsabflüsse für die Gefahrenermittlung und verbesserte Methoden der Vorwarnung entwickeln und bereitstellen.  Bei letzterer ist das Zusammenspiel mit der Meteorologie einerseits und dem Katastrophenschutz andererseits entscheidend. Auch die politische Ebene muss dazulernen und das Denken in Ressorts bzw. Ministerien überwinden.

Was die Bemessungsabflüsse und die Vorwarnung angeht, gibt es intensive Aktivitäten von Meteorologie und Wasserwirtschaft, so dass wir hier auf einem guten Weg der Anpassung sind. So werden voraussichtlich im Herbst 2022 die neuen KOSTRA-Werte, also die für die Bemessung wasserwirtschaftlicher Anlagen relevanten Niederschläge, veröffentlicht. Zwei neue Arbeitsgruppen der DWA beschäftigen sich mit „Hochwasserwahrscheinlichkeiten“ und „Erweiterten Starkregengefahrenkarten“. Letztere sollen unter anderem eine bessere Kommunikation der Gefahren infolge von Starkregen ermöglichen.

Um die Gesellschaft besser auf das wachsende Risiko von Sturzfluten vorzubereiten, muss die Wissenschaft vor allem in zwei Bereichen besser werden: bei der  Vorhersage der Abflüsse aus extremen Niederschlägen und beim Prozessverständnis bei extremen Abflüssen. Auch die Raumplanung- und Bauleitplanung ist gefragt. Hier sind neue Ansätze der nachhaltigen Entwicklung in den Tälern notwendig."

Cordula Dittmer
Cordula Dittmer
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privat

„Die Aufarbeitung der Versäumnisse der Ereignisse im Ahrtal ist sowohl auf juristischer, wissenschaftlicher als auch aus Sicht des Bevölkerungsschutzes sehr umfangreich und weit gediehen. Die vielen Papiere zu Lessons Learned oder Statements aus den Enquete-Kommissionen verdeutlichen dies, wenn auch die Erkenntnisse nicht neu, sondern meist seit Jahrzehnten bekannt sind und hier erneut eine Aktualisierung erfahren, vielleicht das Gelegenheitsfenster nutzend. Viele der betroffenen Gemeinden oder Landkreise nutzen den Wiederaufbauprozess, um ihre Zuständigkeitsbereiche resilienter gegenüber derartigen Extremereignissen aufzustellen, in dem z.B. der Aufbau zerstörter Gemeinde- oder Bürgerhäuser im Sinne eines dual-use mit der Einrichtung von Katastrophenschutzzentren verbunden wird. Ob es zu einer umfassenden Stärkung der lokalen Strukturen der Gefahrenabwehr bzw. des Katastrophenschutzes kommen wird, bleibt abzuwarten. Die Ereignisse im Juli 21 haben jedenfalls sehr eindeutig gezeigt, dass hier große Defizite liegen und es dringend eines Struktur- und Mentalitätswandels der Verwaltungen bedarf, um sich krisen- und katastrophenresilienter aufzustellen.

Versäumnisse liegen bislang v.a. in der politischen Aufarbeitung, die über ein blame-game und „Bauernopfer“ hinausgehen müssen und strukturelle Defizite des Risiko- und Krisenmanagements sowohl auf der Gemeinde-/Landkreisebene als auch in den übergeordneten Instanzen des Krisenstäbe angehen müssen. Das politische Versprechen, schneller und unbürokratischer Hilfe wurde nicht eingelöst und lässt die betroffenen Menschen höchst frustriert zurück – mit zunehmender Entfernung zu staatlichen Strukturen und Vertrauensverlusten in die Politik.“

Ulrich Ciolino
Ulrich Ciolino
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"Ein Jahr nach der Katastrophe sehe ich eine offenere Diskussion über Ursachen, Wirkungen und die Notwendigkeit dauerhafter Veränderungen zur Verbesserung sowohl der Vorbeugung, Erkennung als auch Bekämpfung solcher und ähnlicher Ereignisse.

Allerdings gibt es in praktisch allen wesentlichen Bereichen noch zu viele immer noch offene Baustellen, obwohl die Probleme oft seit Jahren bekannt sind.

Die vfdb Expertenkommission hat dazu in einer ersten Auswertung 15 Big Points bewusst sehr pointiert bereits im Herbst letzten Jahres vorgestellt. Der DFV hat diese Thesen mit unterstützt und gleichlautend veröffentlicht. Darin wird unter anderem die Bedeutung des Ehrenamts hervorgehoben, die bessere Ausstattung von Führungspersonal der Feuerwehren, eine bessere technische Kommunikationsausstattung oder die verstärkte Förderung einschlägiger Forschung. Die weiteren Auswertungen laufen noch und sollen in ein umfangreiches Grünbuch münden.

Wenn wir den auch mit der Expertenkommission Starkregen 2021 eingeschlagenen Weg der Aufarbeitung mit dem Ziel der dauerhaften Verbesserung weiter gehen, sind wir auf einem guten Weg, uns an Extremereignisse anzupassen. Ziel muss es sein, künftig solche Ereignisse besser vorherzusagen, zu monitoren, schneller, effektiver und effizienter zu warnen, die Gefahrenstellen zu erkennen und richtig bekämpfen zukönnen. Wir werden mit jedem Ereignis – und davon wird es eher mehr als weniger geben – besser werden.

Von der Wissenschaft wünsche ich mir eine bessere Vernetzung vorhandener Vorhersagesysteme. Diese sollten breiter verteilt und robuster ausführt werden, verbunden mit der Notwendigkeit, soziale und gesellschaftliche Faktoren besser als bisher zu berücksichtigen. Dabei sollte stetig die richtige und verständliche Aufklärungsarbeit über die eigene Vorsorge als gelebten Selbstschutz im Mittelpunkt stehen.

Dazu kommt noch eine Vielzahl an weiteren Aufgaben für die Forschung zu Fragen eines besseren Wissenstransfers, die Aus- und Fortbildung der Einsatz- und Führungskräfte, bis in die technischen Details der Gefahrenabwehr, um diese schneller, besser und sicherer zu machen."

Wolfgang Büchs
Wolfgang Büchs
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privat

"Leider sind so gut wie keinerlei Fortschritte im Umgang mit Sturzfluten zu erkennen.Im Gegenteil, allenthalben wird der Boden bereitet für die nächste Sturzflut, indem an der gesamten Ahr und einigen Ihrer Zuflüsse, insbesondere dem Sahrbachtal,  durch Bagger- und Planierraupenorgien eine erneut starke Einengung der Gewässer erfolgt und große Areale mit Erde undgeschreddertem Bauschutt aufgeschüttet werden. Aufschüttungen, die beim nächsten, kleineren Hochwasser in den Wohngebäuden der Unterlieger landen. Zuständige Behörden haben versäumt, diesem Aktionismus nach der ersten Aufräumphase Einhalt zu gebieten. Geschätzt zweistellige Millionenbeträge wurden so buchstäblich in den Sand gesetzt. Für sinnvolle Maßnahmen werden sie fehlen. Oft beschränkt sich „Hochwasserprävention“ auf massives Einbringen von Fremdmaterial wie Basaltblöcke. Außerdem  kaum nachvollziehbar: es wurden vielerorts kerngesunde Bäume gefällt, die die Flut überstanden haben. Gleichzeitig werden Holz-/Baumaterialien, Silageballen etc. in Gewässernähe gelagert. 

Auch in der Land- und Forstwirtschaft findet bisher kein Umdenken statt: Maisanbau, Grünlandumbruch, Kahlschläge finden zum Teil direkt an Gewässern statt undpotenzielle Retentionsflächen werden aufgeschüttet. Es fehlt die Einsicht, Fluss und Zuflüsse als quasi lebende Organismen zu akzeptieren, denen man Raum geben muss. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, solche Zusammenhänge zu vermitteln und darauf hinzuweisen, dass jede Landnutzung im Einzugsgebiet der Ahr auch weit entfernt vom Fluss zur Hochwasserbildung beitragen kann. Es fehlen Programme zu Entsiegelung. "

Michael Kunz
Michael Kunz
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KIT

"Zunächst müssen wir begreifen, dass Sturzfluten praktisch überall auftreten und damit jeden treffen können – also nicht nur Ortsansässige in Flusslagen, sondern auch Fernab jeglicher Fließgewässer. Die Auswirkungen generell von hydro-meteorologischen Extremereignissen hängen auch stark davon ab, wie Behörden und die Bevölkerung auf die vorhergesagten Extreme reagieren – ob sie angemessene Maßnahmen ergreifen oder ob sie sich der Gefahr / dem Risiko überhaupt bewusst sind, dem sie ausgesetzt sind. Die operationellen hydrologischen Vorhersagen in Deutschland liefern derzeit keine Informationen über die Auswirkungen eines bevorstehenden Ereignisses, sondern nur über Abfluss und Pegelstand. Um auf kommende Extremereignisse so gut wie möglich vorbereitet zu sein, sind genaue Vorhersagen sowohl hinsichtlich der physikalischen Merkmale als auch der zu erwartenden Konsequenzen auf die Gesellschaft und die gebaute und natürliche Umwelt unerlässlich. Wirkungsorientierte Vorhersagen (Impact-based forecasting), die neben der Gefährdung auch die Exposition, die Verwundbarkeit und die sozialen Aspekte einbeziehen, haben ein großes Potenzial, Schäden zu verringern und die Resilienz – die Widerstandfähigkeit im Falle von Katastrophen – deutlich zu erhöhen."

Susanna Mohr
Susanna Mohr
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KIT

"Schwere Katastrophenereignisse wie das Hochwasser vom Juli 2021 treten sehr selten auf, weil die relevanten meteorologischen, hydrologischen und geomorphologischen Prozesse und Mechanismen, die auf verschiedenen räumlichen und zeitlichen Skalen wirken, „optimal“ ineinandergreifen müssen. Solche seltenen Ereignisse sind jedoch für die meisten wirtschaftlichen Schäden und leider oft auch für die meisten Todesopfer verantwortlich. Hier muss noch gezieltere Forschung über das Zusammenspiel der interagierenden Prozesse erfolgen, um zukünftig besser darauf vorbereitet sein zu können.

Außerdem müssen in aktuelle Gefahrenkarten auch historische Daten miteinbezogen werden, um das Hochwasserrisiko besser und realistischer abschätzen zu können. Im Fall der Ahr hab sich gezeigt, dass es bereits 1804 und 1910 Ereignisse gab, die mit dem Hochwasser von 2021 vergleichbar sind. Derzeit werden allerdings als Bemessungsgrundlage für den Hochwasserschutz (z.B. 100-jährliches Hochwasser) oftmals nur Daten aus den kontinuierlichen Aufzeichnungen – also etwa aus den letzten 50 bis 70 Jahre – berücksichtigt. Zusätzlich sollte bei der Erstellung von Risikokarten bedacht werden, dass sich Infrastrukturen, Landschaftsnutzung und Hochwasserschutzmaßnahmen im Laufe der Zeit erheblich verändern können, was sich direkt auf die Scheitelwasserstände und damit das Hochwasserrisiko auswirkt. Dies geschieht in der Regel auf Zeitskalen, die kürzer sind als die betrachtete Wiederkehrperiode."

Heiko Apel
Heiko Apel
Apel
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GFZ

"Das Hochwasser vom Juli verursachte enorme Zerstörungen und Schäden an Gebäuden und ziviler Infrastruktur. Die größte Katastrophe aber war die hohe Zahl der Menschen, die in dem Hochwasser ihr Leben verloren. Dies hätte nicht passieren dürfen, und hätte im Gegensatz zu den anderen Schäden auch verhindert werden können. Der Schlüssel liegt hierbei im Katastrophenmanagement und der Frühwarnung. Neben Verbesserungen in der Organisation und der Verbreitung der Warnungen sind verbesserte Hochwasservorhersagen entscheidend für eine verbesserte Frühwarnung. Die Wissenschaft kann mittlerweile Methoden und Werkzeuge liefern, die die bestehenden Vorhersagesysteme um sogenannte Impakt-Vorhersagen erweitert. Hierbei werden die Vorhersagen von Wasserständen an Pegeln der bestehenden Vorhersagesysteme mit voraussichtlichen Überflutungsflächen und Fließgeschwindigkeiten in der Fläche ergänzt. Auf Basis dieser Simulationen lassen sich noch weitere Gefährdungspotentiale räumlich explizit ableiten, wie zum Beispiel die Gefährdung von Menschenleben, die Gefahr von der Flut transportierten Fahrzeugen, oder eine Abschätzung der Schäden an Gebäuden. So können Einsatzkräfte über eine aktuelle Vorhersage verfügen, welche Straße unpassierbar werden könnte oder welche kritische Infrastruktur gefährdet wäre. Mit Hilfe dieser Impakt-Vorhersagen ließe sich die Frühwarnung und der Katastrophenschutz auf deutlich detaillierte und räumlich explizite Vorhersage aufbauen, und hoffentlich solche Katastrophen wie die hohe Zahl der Toten bei einem Hochwasser verhindern."

Sergiy Vorogushyn
Sergiy Vorogushyn
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GFZ

"Das Hochwasser vom Juli 2021 in Westdeutschland hat uns wieder sehr eindrücklich vor Augen geführt, welch zerstörerische Kraft und Überraschungspotenzial die Sturzfluten mit sich bringen. Das letztere lässt sich allerdings erheblich reduzieren, wenn man historische Hochwasser – noch vor Beginn der instrumentellen Messungen – bei der statistischen Auswertung, Bemessung von Hochwasserschutzanlagen und Hochwassergefahrenkartierung flächendeckend berücksichtigt. Mit aktuellen Simulationsmethoden lassen sich historische Hochwassermarken an einzelnen Punkten „in die Fläche bringen“. Wir sind somit in der Lage, die belastbareren Überschwemmungskarten mit entsprechenden Unsicherheiten zu erstellen, die Überraschungen in Zukunft reduzieren sollten, insbesondere im Zuge der klimatisch bedingter Hochwasserveränderungen. Das wird nun zum Beispiel im schwer betroffenen Ahrtal durchgeführt, sollte aber auch in weiteren Gebieten Deutschlands systematisch erfolgen."

Michael Dietze
Michael Dietze
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privat

"Das Hochwasser in der Eifel hat auf traurige Weise deutlich gemacht, dass unser Blick auf derartige Ereignisse nicht allein auf die Haupttäler gerichtet bleiben darf, und dass neben einem hydrologischen Fokus vor allem die Landschaft als Ganzes betrachtet werden muss. Im Juli letzten Jahres führten nicht nur extreme Regenmengen und rapide ansteigende Wasserspiegel zu enormen Schäden. Die durch menschliche Nutzung tief veränderte Landschaft hat vor allem in Nebenflüssen dazu beigetragen, dass das Hochwasser so unberechenbar, massiv und zerstörerisch ablief. Waldwege, die effektiv Hangwasser sammeln und ableiten konnten, Dränagesysteme, die das Wasser viel schneller zum Fluss führten und von Treibgut verstopfte Durchlässe, die das Wasser erst aufstauten und dann beim Versagen schwallartig freigaben, sind nur drei Beispiele dafür, wie unangepasste Landnutzung fernab der Haupttäler die Sturzflut beeinflusst haben. In den Haupttälern selbst waren es wiederum vor allem erodierte Sedimente, entwurzelte Bäume und mitgerissene Autos oder Hauseinrichtungen, die das Schadenspotential von schnell fließendem Wasser enorm verstärkt hatten. Nach Aufarbeitung dieser bisher kaum berücksichtigten Effekte ist die Forschung jetzt dabei, Schwächen bestehender Mess- und Warnsysteme aufzufangen und Methoden zu entwickeln, um die oben genannten Effekte der Landschaftsveränderungen in Hochwassermodelle zu integrieren. Nur so lässt sich das Schadenspotential zukünftiger Ereignisse senken."

Portrait Karsten Specht
Portrait Karsten Specht
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OOWV

"Das, was wir im Sommer 2021 in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen erlebt haben, hat uns sehr leidvoll daran erinnert, wie wichtig es ist, dass wir uns besser auf die Folgen des Klimawandels vorbereiten und uns besser auf Extremwetter einstellen müssen.

Neben besseren Frühwarn- und Alarmmechanismen müssen wir die Resilienz kritischer Infrastrukturen und den Hochwasserschutz auf den Prüfstand stellen.

Dazu gehört erstens die kritische Infrastruktur auf bisher nicht gekannte Extremhochwässer zu überprüfen. Wo Schwachstellen sind, sollten Versorgungsleitungen und Kläranlagen besser gegen Hochwasser und Sturzfluten geschützt werden. Das Wichtigste ist jedoch, dass wir Flüssen und Bächen mehr Raum geben, um damit notwendige Retentionsflächen zu schaffen.

Dazu gehört zweitens die Flut-Erfahrungen dahingehend zu nutzen, um Häuser in Risikogebieten besser gegen potenzielle Überflutungen abzusichern oder im Zweifel in bestimmten Bereichen nicht zu bauen.

Nicht zuletzt müssen wir Hochwasserentstehungsgebiete besser in den Blick nehmen. Das gilt insbesondere für exponierte Lagen wie enge Täler. Natürliche und technische Schutzmaßnahmen müssen für diese Regionen optimal kombiniert werden. Dazu gehören forst– und landwirtschaftliche Maßnahmen wie Schutzwälder sowie Verbauungen und Rückhaltebecken. Die Fließgewässer müssen regelmäßig überprüft werden, ob das Ufer/der Uferbewuchs standsicher ist und sich auch kein übermäßiges Treibgut im Flussbett ansammelt. Diese haben erheblich zu den Verklausungen, also dem ganz oder teilweisem Verschluss an den zahlreichen Brücken an der Ahr geführt, was die Flut noch stärker steigen ließ und letztlich viele Brücken zerstört hat.

Kurzum: Wir müssen wieder lernen, mit der Natur zu bauen, nicht gegen sie. Bei allen Schwierigkeiten und widersprechenden Interessen ist es wichtig, die verschiedenen kommunalen Akteure integrativ und effektiv zusammenzubinden. Nur so können Risiken erkannt und progressiv angegangen werden."

Albrecht Brömme
Albrecht Brömme
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privat

"Meine Berichte für Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen liegen seit Anfang dieses Jahres vor. Sie zeigen umfassenden Handlungsbedarf bei verschiedenen Themen auf. Zur schrittweisen Umsetzung sind mehrere Jahre Zeit und reichlich Geld erforderlich.

Einerseits bin ich zuversichtlich, dass die Vorschläge auf offene Ohren stoßen, andererseits ist immer noch eine gewisse Lähmung zu beobachten. In vielen Bereichen befürchte ich eine „Hochwasser-Demenz“.

Insgesamt bin ich in Sorge, was unsere Anpassungsstrategie an solche Extremwetterereignisse betrifft. Solange beispielsweise die Versiegelung von Oberflächen zunimmt und solange der Wiederaufbau von Gebäuden und Infrastruktur prinzipiell so wie vor dem 15. Juli 2021 erfolgt, werden ähnliche Unwetter vergleichbare Schäden verursachen. Und derartige Risiken gibt es in rund 40 % der Fläche Deutschlands.

Aus meiner Sicht müssen wir besonders in den folgenden Bereichen aktiv werden, um uns besser auf Risiken von Sturzfluten vorzubereiten:

  • Modellrechnungen zum Abfluss großer Niederschlagsmengen auf die gesamte Oberfläche Deutschlands. Jeder Mensch muss wissen, in welcher Umgebung er wohnt oder arbeitet.
  • Methoden zur Verbesserung der Resilienz von Verwaltung, Wirtschaft und Bevölkerung
  • Methoden zur systematischen Warnung und Information der Verwaltung, der Wirtschaft und der Bevölkerung. Erkennen und Gegenwirken von Missinformation und Desinformation
  • Reduzierung der Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit von Stäben und Einsatzkräften infolge von Eigenbetroffenheit
  • Durchhaltefähigkeit der Verwaltung und der Einsatzkräfte bei Einsätzen über mehrere Wochen/Monate
  • Methoden zur systematischen Einbindung von Spontanhelfern
  • Verringerung der soziologischen sowie der psychischen Auswirkungen von Unglücken und Katastrophen"
Bruno Merz
Bruno Merz
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GFZ

"Extreme Ereignisse weiten sich dann zu Katastrophen aus, wenn Anwohner, Entscheidungsträger und Katastrophenmanagement überrascht werden und nicht auf solche Situationen vorbereitet sind. Risikoanalysen beschränken sich zumeist auf wenige Szenarien und gehen nicht über Ereignisse mit Jährlichkeiten von 100 bis 200 Jahren hinaus. Um besser gegen Überraschungen gewappnet zu sein, sollten auch Worst-Case Szenarien ausgelotet und das Versagen von baulichen und organisatorischen Schutzmaßnahmen analysiert werden. Was kann passieren, wenn Deiche oder Rückhaltebecken brechen oder Warnketten nicht funktionieren? Bisherige Analysen, die sich zumeist auf Überflutungsflächen und Wasserstände für wenige Szenarien beschränken, sollten erweitert werden, um beispielsweise die Schadensfolgen durch den Transport von Geschiebe und Totholz, Unterspülung von Brücken und Gebäuden, oder Hangrutschungen abzuschätzen. Und es ist wichtig vorab zu klären, wo und unter welchen Bedingungen Situationen entstehen können, in denen Menschen zu Tode kommen."

Holger Schüttrumpf
Holger Schüttrumpf
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Sebastian Hudjetz

Das Hochwasserereignis in der Eifel im Jahr 2021 war ein Ereignis weit jenseits unserer Hochwasserschutzziele. Damit wurde uns sehr deutlich die Verwundbarkeit unserer Gesellschaft bei Extremereignissen vor Augen geführt. Es wurde geholfen, Daten erhoben, Fakten gesichtet, Lehren gezogen und teilweise der Wiederaufbau sofort eingeleitet. Nach einem Jahr sind aber große Fortschritte im Umgang mit extremen Sturzfluten noch nicht sichtbar, dafür ist die Zeit einfach viel zu kurz gewesen.  

Es fehlt noch die konkrete Umsetzung der Lehren, die wir aus dem Hochwasserereignis 2021 gezogen haben. Derzeit findet der Wiederaufbau statt. Dies ist folgerichtig, denn die betroffenen Personen benötigen wieder dauerhafte Wohnungen. Ob es dagegen richtig ist, auch stark beschädigte und auch weiterhin stark gefährdete Gebäude in Überschwemmungsgebieten an Ort und Stelle wiederaufzubauen, da habe ich persönlich meine Zweifel. Das nächste Katastrophenhochwasser kommt bestimmt! Hier sollten vor allem Politik und Versicherungen bei sehr stark beschädigten Gebäuden Anreize setzen, um einen Wiederaufbau auch an anderer hochwassersicherer Stelle zuzulassen.

Insgesamt nehmen wir Extremereignisse (nicht nur Hochwasser!) nicht ernst genug. Extremereignisse können jederzeit und überall auftreten. Daher müssen wir insbesondere den Bereich der Klimaanpassung stärker vorantreiben und uns auf mögliche Extremereignisse vorbereiten und unser Verhalten im Katastrophenfall üben. Dies bedeutet im Bereich des Hochwasserschutzes, funktionierende Frühwarnsysteme, zusätzliche technische und natürliche Hochwasserrückhalteräume, Raum für den Fluss, Objektschutz und Eigenvorsorge. Dies erfordert langfristige Konzepte im Bereich der Raum- und Städteplanung und einen Rückbau von Nutzungen in Überschwemmungsgebieten. Ein Weiter so kann und darf es nicht geben!

Hierzu möchte ich zwei Themen ansprechen. Die größte Katastrophe des Hochwasserereignisses 2021 waren die vielen Todesopfer. Wir brauchen funktionierende Frühwarnsysteme, die die Leute auch wirklich erreichen. Das reicht aber noch nicht, die Warnungen müssen auch in Handlungen umgesetzt und trainiert werden. Hier haben wir großen Nachholbedarf. 

Das zweite Thema behandelt den Wiederaufbau. Wie schaffen wir es, unter dem Motto „Building back better“ resiliente Infrastrukturen und Gebäude in den vom Hochwasser betroffenen Regionen zu errichten? Der Wiederaufbau sollte zukunftsgerichtet sein und neue Anforderungen an Wohnen, Arbeiten, Verkehr, Klima und andere Themen von Beginn an integrieren. Auch hier kann die Wissenschaft einen wichtigen Beitrag leisten. An dieser Stelle setzt insbesondere das BMBF-KAHR-Projekt an (https://www.hochwasser-kahr.de/).

Weitere Informationen

BMBF-geförderte Projekte (Auswahl)

KAHR: Wissenschaftliche Begleitung der Wiederaufbauprozesse nach der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen – Klimaanpassung, Hochwasser und Resilienz
KAHR: 10 Empfehlungen aus Sicht der Wissenschaft zum Thema Wiederaufbau und Zukunftsfähigkeit der flutbetroffenen Regionen

HoWas2021: Governance und Kommunikation im Krisenfall des Hochwasserereignisses im Juli 2021
HoWa-innovativ: Hochwasserfrühwarnung für kleine Einzugsgebiete mit innovativen Methoden der Niederschlagsmessung

 

BMBF-Fördermaßnahmen (Auswahl)

Klimaresilienz durch Handeln in Stadt und Region
RegIKlim - Regionale Informationen zum Klimahandeln

 

Veröffentlichungen (Auswahl)

KIT: Aktuelle Studien zur Flutkatastrophe in der Eifel 2021 zur zukünftigen Entwicklung solcher Extremereignisse
CEDIM: Schadensbericht Ahrtal
Helmholtz-Hochwasserforschung: Jeder einzelne von uns braucht eine Risiko-Kompetenz
ESKP Forschungsthema: Hochwasser in Deutschland
REKLIM: Hochwasser - Wie Gemeinden sich für den Ernstfall wappnen
GERICS-Klimaausblicke für Landkreise
DKKV: Starkregen und seine Folgen
UBA-Papier "Klimaresilienz stärken - Bausteine für eine strategische Klimarisikovorsorge"
GRÜNBUCH zur Öffentlichen Sicherheit 2020: Empfehlungen zu Klimawandel und Wetterextreme
BBK-Veröffentlichung "Klassifikation meteorologischer Extremereignisse zur Risikovorsorge gegenüber Starkregen für den Bevölkerungsschutz und die Stadtentwicklung (KlamEx)"

 

Untersuchungsausschüsse (Auswahl)

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss V (Hochwasserkatatsrophe) in NRW
Parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz

 

Netzwerke (Auswahl)

DKK Starkregen-Initiative
DKKV: Deutsches Komitee Katastrophenvorsorge e.V. Flutverteiler /Sammlung von Umfragen und Publikationen
Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e.V. (vfdb) mit Expertenkommission "Aus der Starkregenkatastrophe lernen"
HochwasserKompetenzCentrum e.V. (HKC) Köln


 

 

 

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